Buch des Monats: September 2023

Jakob, Samuel [Hg.]

Präsenz im Heute Gottes. Impulse für eine Spiritualität auf den Spuren von Josua Boesch.

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2022. 288 S. Kart. CHF 36,80. ISBN 9783290184827.

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2016 erschien in einem Sammelband ein Referat von Laurent Schlumberger unter dem Titel »Can a Protestant be a Monk?«. Der erste Präsident der 2013 neu »Vereinigten Protestantischen Kirche Frankreichs« stellt eine Frage, die an einen Nerv der protestantischen Bewegung rührt. Liegt die Antwort nicht auf der Hand? Mit dem Vermächtnis eines gescheiterten Mönchs im kollektiven Gedächtnis und dem dogmatischen Widerstand gegen eine rigide Vorstellung der Heiligung im Credo treten Protestanten für eine weltzugewandte Lebensform des Glaubens ein und neigen dazu, im Monastischen eine Verirrung zu sehen.
Nun gibt es in Frankreich seit 1947 eine Communauté im Burgund, die ausgerechnet von einem reformierten Pfarrer gegründet wurde. Der Gründer und langjährige Prior Roger Schütz war ein protestantischer »Mönch«, die Communauté in Taizé ein Ort der gelebten Ökumene.
Was einige französische Reformierte immer noch irritiert, hat in den letzten Jahrzehnten zigtausende Besucherinnen und Besucher der Gemeinschaft fasziniert und inspiriert. In der Frage von Schlumberger und seiner theologisch fundierten positiven Antwort steckt also die konkrete Erfahrung, mehr noch der eindrückliche Beweis, dass es möglich ist, das Ethos der protestantischen Lebensfrömmigkeit mit dem Pathos der kontemplativen Tradition und der brüderlichen Gemeinschaft zu verbinden.
Im Sammelband »Präsenz im Heute Gottes. Impulse für eine Spiritualität auf den Spuren von Josua Boesch« geht es auch um einen Protestanten, der Mönch wurde. Es ist die Geschichte von einem, der die Tiefe des christlichen Glaubens in der Stille suchte und in seinem künstlerischen Schaffen ein einzigartiges Zeugnis hinterlassen hat. Der Band, der zum Anlass des 100. Geburtstags von Josua Boesch erschienen ist, versammelt Beiträge von Menschen, die Boesch begegnet sind und seine Impulse weiterdenken. Es ist eine polyphone und polychrone Würdigung des Künstlers, des Mystikers und Dichters. Und es ist sicher kein Zufall, dass Boesch für seinen Weg wichtige Impulse anlässlich einer Retraite in Taizé bekommen hat. Themen, die ihn bewegt haben, gehören gewissermaßen zum spirituellen Inventar einer christlichen Lebensform, die aus dem reichen Schatz der Una Sancta schöpfen. Der Weg führte ihn zur Mystik und zu den Ikonen, zum Staunen, Schauen und Schaffen auf den Spuren der großen Wandlung, zum Geheimnis des Unsagbaren und in die Tiefen der Seele hinein. Wie kommt ein Protestant auf diese Spur? Was trieb ihn und was zog ihn in die Gemeinschaft in der Toskana?
Im ersten Beitrag erinnert die Tochter Verena Frei-Boesch an die Herkunftsfamilie und schildert den Weg, den ihr Vater gegangen ist. Es ist ein ehrliches und berührendes Bild des Menschen, der auch Krisen nicht verschweigt: Enttäuschungen über gescheiterte Reformprojekte, Erfahrungen des Zweifels, die Scheidung. 1979 verließ Boesch das Pfarramt und fand zu seiner Berufung – einem Leben in der Stille. Dass ihn der »Ausbruch« aus seinem bisherigen Leben in eine Zelle führte, war nicht ohne Ironie. Boesch spürte, dass er einen Ort der Konzentration aufsuchen musste, um zur Wandlung zu kommen. In seiner Zeit im Pfarramt war der Schopf im Garten ein Rückzugsort für Kreatives und Meditatives. Dass er zum Handwerk zurückkehrte, das er im ersten Beruf erlernte, hatte eine tiefe Symbolik. Der Goldschmied wusste um das Schöne, um die Verbindung von Form und Material, um Prozesse des Schmelzens, um den Glanz des Edlen, das das Gemeine hinter sich lässt. »Wandlung« wurde eines der zentralen Worte im Schaffen Boeschs. In seinem Tagebuch (Morgendämmerung. Tagebuch einer Wandlung, Oberegg 1995) reflektierte und studierte er sein eigenes Suchen, Schmelzen, Gereinigt- und Geheiltwerden.
Die verschiedenen Autorinnen und Autoren des Bandes finden in diesen Selbstzeugnissen reiches Material. Wer Josua Boesch nicht kennt, hört dank der vielen Zitate immer wieder die Stimme des Originals und sieht dank der Abbildungen auch etwas vom künstlerisch-spirituellen Schaffen des Meisters. Das Titelbild zeigt den Seiltänzer, eine Ikone, die 1985 entstand. Boesch schreibt dazu: »Der neue Mensch geht auf dem Seil. Nur Schritt für Schritt. Er schaut nicht rückwärts, nicht nach vorn, nur auf das Seil und auf den Fuss, der tastend geht zum DU hinüber.« (Josua Boesch, arte con4templativa, Heilkraft aus dem Schauen, Zürich 2022,52–55) Das Bild bringt ein zentrales Anliegen Boeschs zum Ausdruck: Seine Spiritualität sucht einen Verwandlungsweg zum DU hinüber und ist darum tastender Wandel, ein Balancieren und Konzentrieren, ein Hochseilakt. Das kann bodennahen Menschen auch Angst machen. Muss alles neu werden? Braucht es den Künstler, um zum DU hinüberzugehen? Müssen Protestanten wieder Mönche und Nonnen werden, um dem Glauben auf die Spur zu kommen? Ist das (eigene) Christentum gesichtslos geworden?
Die Antworten der Autorinnen und Autoren sind eindrückliche und ausnahmslos sehr sorgfältig gemachte, kluge und persönliche Auseinandersetzungen mit Boeschs Impulsen: eine hochkonzentrierte Darstellung der Essenz der Spiritualität von Heinz Brauchart, ein Gespräch über Kreuz und Auferstehung, das Reto Müller und Pierre Bühler aufnehmen, eine vertiefte Betrachtung der ikonischen Aspekte im Denken und Schaffen von Boesch bei Eva-Maria Faber, Simon Peng-Keller und Miroslav Simijonovic. Mit Boeschs künstlerischem Erbe beschäftigt sich Veronika Kuhn, mit seiner Nähe zur Bildwelt des Niklaus von der Flüe Marianne Vogel Kopp, den jüdischen Anklängen in der Psalmenübersetzung geht Judith Hélène Stadler nach, zur Individuation schreibt die Psychotherapeutin Ulrike Schatzmann, zum Dreisatz Inspiration, Innovation und Aktion der Ethiker Christoph Stückelberger, zur Mystik von Josua Boesch der Herausgeber des Bandes Samuel Jakob.
Was den Reiz dieser Sammlung ausmacht, ist die Bündelung der Themen im Spiegel einer Person. Dass es etwas zum Schauen gibt und nicht nur Lesestoff, dass sich an dieser Biographie, die keine Hagiographie ist, etwas materialisiert, dass sich darin einzigartig und doch wieder typisch die spirituellen Suchbewegungen in der Spätmoderne spiegeln.
»Can a Protestant be a Monk?« fragte Laurent Schlumberger. Nach der Lektüre dieses Bandes fragt sich der eine Leser oder die andere Leserin vielleicht: »Can you be a monk and still remain Protestant?« Boeschs Leben spricht dafür: Yes, you can. Er war nicht nur Seiltänzer, er war auch ein Brückenbauer, einer, der Dinge verband, die andere trennten und vielleicht gerade darin, dass er Traditionen überschreitet – z.B. in der Bildgeschichte des »konstantinischen Christentums« – auch ein Protestant blieb. Seine Christusikonen sind keine Herrschaftsbilder. Es ist ein milder, sanfter, mit der Anima versöhnter Christus. Und auch darin lässt sich etwas Zeittypisches erkennen: Seine Aversion gegen das Autoritäre, sein Widerstand gegen das Genormte, seine Sehnsucht nach dem Neuen, sein Zug hin zur Weite – es sind Konturen einer postkonfessionellen christlichen Identität, die sich nicht vorschreiben lässt, was sie schauen will und erst zur Ruhe kommt, wenn sie geschaut wird – oder mit den Worten Boeschs aus seinem Tagebucheintrag vom 11. Juni 1982: »Das sind die Augen, die ich immer schon suchte: DU hast mir ins Innerste geschaut und dort DEINE Augen zurückgelassen. Denn niemand schaut ins Innerste eines anderen, ohne seine Augen dort zurückzulassen.« (Morgendämmerung, 127 – zitiert im Beitrag von Ulrike Schatzmann, 232)
Natürlich gibt es neben so viel Bedenkenswertem auch Dinge, die nicht nur erzprotestantischen Leserinnen und Lesern bedenklich vorkommen. Vieles ist spannend in diesem Buch und wirft auch Licht auf Spannungen, die es auszuhalten gilt – zum Beispiel mit Blick auf die Mystik. Samuel Jakob zieht in seinem Beitrag Linien aus, die zu Diskussionen anregen. Er hat Bücher gelesen, die Josua Boesch nicht gelesen hat, testet Brücken, die in ein weites Feld leiten. In die andere Richtung geht Pierre Bühler, der Fragen an Boeschs Auferstehungstheologie stellt und mit einer theologia crucis gegen eine allzu leichte Auferstehungstheologie hält, die sich zu weit vom Kreuz entfernt. Wie leicht, wie weit und wie licht darf es sein? Welche Grenzen lassen Christen, die das Weite suchen und vor der Enge fliehen, hinter sich? Und welche Grenzen sollten sie ziehen, wenn sie nicht verloren gehen wollen? Wie vermeidet man das Elitäre und wie entgeht man dem Sog des Egalitären? Wann wird das Singuläre solitär? Wie kann das Charisma der »Einsamen« der Gemeinschaft zugutekommen? Der Band regt auch zum Theologisieren an und ist nicht nur den Theophilen zu empfehlen. Es ist gut, darüber nachzudenken und den Seiltanz zu wagen.

Ralph Kunz (Zürich)

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