Buch des Monats: Mai 2017

Francis Watson

Gospel Writing. A Canonical Perspective

Grand Rapids/Cambridge: Eerdmans 2013. 679 S. $ 48,00. ISBN: 978-0-8028-4054-7

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Dass dieses Buch in Deutschland über die Grenzen der Fachwissenschaft hinaus viele Leser finden wird, ist kaum zu erwarten. Wünschenswert wäre es freilich, denn das Thema, die Entstehung der Evangelien des Neuen Testaments, gehört zu den Kernfragen neuzeitlicher Bibelwissenschaft. Nicht zuletzt an dieser Frage entzündete sich im 18. Jahrhundert der Streit der Gebildeten, Theologen, Philosophen, Literaten, um Glaube und Geschichte. Die Einsicht in die Unvereinbarkeit von ewigen Vernunftwahrheiten mit zufälligen Geschichtswahrheiten, wie sie Lessing in seiner Metapher vom „garstigen Graben“ auf den Punkt gebracht hat, wurde an Auseinandersetzungen um die historische Zuverlässigkeit der Evangelien gewonnen (dazu Teil I: „The Eclipse of the Fourfold Gospel“). Damit waren Fragen aufgeworfen, vor denen bis heute alle diejenigen Theologen stehen, die die Urkunden des Neuen Testaments mit historischen Methoden erforschen. Viele von ihnen scheinen sich kaum noch vorstellen zu können, dass das über sieben Achtel der Zeit der Kirche hinweg alles andere als selbstverständlich war und dass dieser Zugang zur Heiligen Schrift auch gegenwärtig weltweit wohl nur von einer sehr kleinen Minderheit der Christen, ja der Theologen, geteilt wird.
Es kann angesichts solcher Mehrheitsverhältnisse wohl kaum als Erfolg der Bibelwissenschaft verbucht werden, wenn sich in theologisch gebildeten Kreisen hierzulande der Eindruck verfestigt hat, alle Fragen der historischen und literarischen Entstehung der neutestamentlichen Evangelien seien mit der so genannten „Zwei-Quellen-Theorie“ im Wesentlichen geklärt. Für mich als Neutestamentler ist es ganz im Gegenteil geradezu erschreckend, mit welcher Selbstverständlichkeit heute bis in gymnasiale Klassenzimmer oder Gemeindeseminare hinein so getan wird, als stehe „Q“ ebenso in der Bibel wie die „Markus-Priorität“, und Johannes brauche man unter historischen Gesichtspunkten ohnehin nicht mehr ernst zu nehmen. Natürlich wird in NT-Proseminaren und Methodenbüchern mehr oder weniger deutlich auch noch auf andere Hypothesen zum synoptischen Problem verwiesen, aber wirklich ernst scheint sie der durchschnittliche Student nicht nehmen zu müssen, wenn er sich in die Exegese synoptischer Texte einübt.
Dass die »Zwei-Quellen-Theorie« ein doch recht schwankendes Hypothesengebäude ist, und zwar für die Frage nach dem „historischen Jesus“ genauso wie für die nach dem „Christus des Glaubens“, kann man aus dem Buch des britischen Neutestamentlers Francis Watson (Jahrgang 1956, seit 2007 Neutestamentler in Durham) lernen (Teil II: „Reframing Gospel Origins“). Er untergräbt nicht nur einen ihrer beiden Pfeiler, nämlich „Q“, sondern durchlöchert auch noch ihr „Dach“, die angeblich so dichte Grenze des Vier-Evangelien-Kanons oder gar nur der Synoptiker. Im Gegensatz zur herkömmlichen Hypothese einer gemeinsamen Quelle für Matthäus und Lukas neben Markus hat seiner Meinung nach Lukas nicht nur Markus, sondern auch Matthäus gekannt und gezielt verarbeitet – das macht die Annahme von »Q« überflüssig. Und anstatt sich bei der Rekonstruktion der Entstehungsprozesse der Evangelien auf Matthäus, Markus und Lukas zu beschränken, bezieht er programmatisch Überlieferungsstoffe aus dem Thomasevangelium einerseits und dem Johannesevangelium andererseits in seine Textanalysen ein. Aus dem Thomasevangelium lasse sich auf eine Spruchsammlung zurückschließen, die den Synoptikern an die Seite zu stellen ist, und aus dem Johannesevangelium sowie außerkanonischen Überlieferungen wie dem Egerton-Evangelium auf eine vorjohanneische Quelle. Dies alles wird über mehrere hundert Seiten hin in detaillierten Textanalysen nachzuweisen versucht, die für die Spezialisten gedacht und von ihnen weiter zu diskutieren sein werden. Das Anliegen des Buches geht aber über solche Spezialdiskussionen weit hinaus und richtet sich auf die ihnen zugrundeliegenden historischen, theologischen und hermeneutischen Grundfragen.
Die exemplarische Untersuchung des Umgangs mit Jesusüberlieferungen im Johannesevangelium, im Thomasevangelium und im Petrusevangelium macht Rezeptions-und Interpretationsvorgänge im frühen, ›vor-kanonischen‹ Christentum sichtbar, die auch den kanonisch gewordenen Evangelien zugrundeliegen. Eine Unterscheidung zwischen ‚kanonischen‘ und ‚außerkanonischen‘ Quellen ist den Texten selbst nicht inhärent, sondern erst im Rückblick und nur aufgrund der Auswahlprozesse möglich, die zur Bildung des kirchlichen Schriftenkanons geführt haben. Deshalb müssen bei der Frage, wie die Evangelien entstanden sind und welche der in ihnen überlieferten Nachrichten für die historische Frage nach Jesus aussagekräftig sind, alle erhaltenen oder rekonstruierbaren Quellen in Betracht gezogen werden, nicht bloß die Synoptiker oder gar nur Markus.
Den Prozess der Kanonbildung bis zum 4. Jahrhundert beschreibt Watson ausführlich und differenziert im dritten Teil seines Buches („The Canonical Construct“). Auch hier steht nicht die Sammlung und Darbietung von historischen Informationen im Mittelpunkt, sondern die Reflexion der Auswahl- und Interpretationsprozesse. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Einbeziehung von ikonographischen und liturgischen Quellen. Sie belegen, dass die Zusammenstellung von genau vier Jesus-Erzählungen zur kirchlich-verbindlichen Sammlung schon früh einer theologischen Deutung unterworfen, ja, wohl von Anfang an Ergebnis einer solchen gewesen ist. Am Ende stehen folgerichtig sieben Thesen zu Jesus und dem Kanonischen Evangelium (nicht den Evangelien).
Zugang zu Jesus gibt es nur über die Evangelien und die in ihnen erhaltenen Traditionen. Das bedeutet: Wer aus welchen Motiven auch immer nach Jesus fragt oder mit Berufung auf Jesus argumentieren oder irgendetwas erreichen will, der muss sich hineinbegeben in eine Kette von Rezeptions- und Interpretationsprozessen. Einen „historischen Jesus“ gibt es ebenso wenig für sich wie einen „Christus des Glaubens“, sondern nur – das hat schon Martin Kähler gewusst – den „geschichtlichen, biblischen Christus“, den das Neue Testament bezeugt. Dass dieses Zeugnis des Neuen Testaments selbst wiederum ein Konstrukt ist, das auf einer Kette von Rezeptions- und Interpretationsprozessen im frühen Christentum beruht, stellt eine theologische Herausforderung für jeden dar, der sich heute auf die Bibel beruft, besonders aber für lutherische Theologen, die sich im Jahr der Reformation hermeneutisch ausreichend reflektiert auf das sola scriptura stützen wollen.

Karl-Wilhelm Niebuhr (Jena)

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