Buch des Monats: Juli/August 2011

Caputo, John D., and Linda Martin Alcoff [Eds.]

St. Paul Among the Philosophers.

Bloomington: Indiana UP 2009. 195 S. Kart. US$ 22.95. ISBN 978-0-2532-2083-7.

Niemand hätte damit gerechnet, dass der Apostel Paulus zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem provozierenden Thema zeitgenössischer Philosophie werden würde. Zwar gab und gibt es immer wieder philosophisches Interesse an biblischen Denkern und Themen, auch jenseits des engeren Bereichs der Religionsphilosophie. Doch meist sind es Jesus oder Johannes, nicht aber Paulus, die zur Auseinandersetzung reizen. So interessierte sich die Aufklärungsphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts für Jesus als Lehrer einer universalmenschlichen Moral, den man dem dogmatischen Christusbild der Theologie entgegensetzen konnte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wandte sich das philosophische Interesse vor allem Johannes zu, dessen Liebes- und Logostheologie die großen Entwürfe des deutschen Idealismus von Goethe über Hegel bis zu Schelling inspirierte. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde auch Paulus philosophisch zum Thema, allerdings bezeichnenderweise ganz negativ. In seiner großen Ab¬rechnung mit dem Christentum im Antichrist ließ Nietzsche keinen guten Faden an Paulus. Im ressentimentgeleiteten Denken dieses Juden sah er den Ursprung der perversen christlichen Mitleidsmoral mit ihrer lebensfeindlichen Vertröstung auf eine andere Welt, dem großangelegten Priesterbetrug der kleinkarierten »Monotono-Theisten« und leidensunfähigen Moralapostel und Gutmenschen, der die Kultur Europas zum Opfer gefallen war.
Es gehört zu den Überraschungen der Gegenwart, dass gerade dieses negative Paulusbild zum Anknüpfungspunkt eines neuen und positiven Interesses an Paulus werden konnte. Inspiriert durch die Arbeiten von Jakob Taubes (Die politische Theologie des Paulus, hrsg. v. Aleida Assmann und Jan Assmann in Verbindung mit Horst Folkers, Wolf-Daniel Hartwich und Christoph Schulte, München 32003), Jean-François Lyotard (Jean-François Lyotard/Eberhard Gruber, Un trait d’union, Quebec 1993; dt: Ein Bindestrich – Zwischen »Jüdische« und »Christlichem«, Düsseldorf 1995), Alain Badiou (Saint Paul. La fondation de l’universalisme, Paris 1997; dt. Paulus – Die Begründung des Universalismus, München 2002), Georgia Agamben (Il tempo che resta. Un commento alla Lettera ai romani, Torino 2000; dt. Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt am Main 2006) und Slavoi Žižek (The ticklish subject. The absent centre of political ontology, Verso 1999; dt. Die Tücke des Subjekts, Frankfurt 2001; The puppet and the dwarf. The perverse core of christianity, Cambridge 2003; dt. Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt 2003) hat sich ein Diskurs entwickelt, in dem Paulus als »Kämpfer für die Wahrheit« in neuer und theologisch ungewohnter Weise entdeckt wurde. Für Badiou, den maoistischen Philosophen, ist Paulus der singuläre Apostel des universal Neuen, für Žižek, den psychoanalytischen Kulturtheoretiker, ein Denker, der sich aufgrund seines energischen Einsatzes für die apokalyptische ekklesia der Christen zu Jesus so verhält wie Lenin zu Marx. Die Theologie des Paulus wird als Paradigma eines (linken) politischen Denkens vorgestellt, das ohne Wenn und Aber Singularität und Universalität betont und sich dezidiert gegen das selbstzufriedene Sichbegnügen mit Partikularität und Differenz in der Postmoderne stellt.
Das von John Caputo und Linda Martin Alcoff herausgegebene Buch St. Paul among the Philosophers bietet einen wohlinformierten Zwischenbericht über den Stand der Debatte. Diese hat deutliche eine auf Paulus und auf die Gegenwart bezogene Dimension. Auf der einen Seite entdecken Philosophen wie Badiou und Žižek in Paulus einen Denker, der die Anliegen ihrer eigenen Philosophien geradezu einzigartig verkörpert: das Ereignisdenken des radikal Neuen (Badiou) oder die christliche-dialektische Alternative zum negationstheologischen Diskurs jüdischer Provenienz in der Gegenwart (Levinas, Derrida) am Leitfaden von Hegel und Lacan (Žižek).
Auf der anderen Seite wird der politische Charakter des Denkens von Paulus herausgearbeitet, der nicht nur Überkommenes fortsetzt, sondern den Gegen¬satz von »Juden« und »Heiden« mit der Bildung der neuen Gemeinschaft der »Christen« in provozierender Weise überschreitet. Diese Linie richtet sich vor allem gegen den Konsens der neueren Paulusinterpretation, derzufolge Paulus und seine Theologie aus dem Kontext des Judentums seiner Zeit und als Teilmoment der Geschichte einer sich entwickelnden jüdischen Orthodoxie zu verstehen seien. Werden hier die Kontinuitäten zwischen Paulus und seiner jüdischen hellenistischen Umwelt bis zur Auflösung seiner Distinktheit in die Partikularitäten seiner Zeit betont, so setzt Badiou demgegenüber radikal auf das unableitbar Neue des Auferstehungsereignisses. Auch wenn er dieses Ereignis nicht theologisch versteht, sondern als Maoist für eine bloße Fabel hält, hat diese die Welt doch unwiderruflich verändert, weil sie wirkungskräftig etwas radikal Neues bezeugt und zur Geltung gebracht hat. Sachgemäß verstanden werden kann das Auferstehungsereignis Badiou zufolge nicht aus seinem historischen Kontext, sondern nur von der dadurch überhaupt erst möglich gewordenen neuen Gemeinschaft der Christen und deren Treue zu diesem Ereignis her, ohne das Christen nicht wären, was sie sind: weder Juden noch Heiden, sondern etwas gänzlich Neues.
John Caputo bietet eine erhellende Einführung in die Debatte (Postcards from Paul: Subtraction versus Grafting). In einem ersten Teil (Paul Among the Philosophers) legt zunächst Badiou seine Paulussicht pointiert dar (St. Paul, Founder of the Universal Subject), danach stellt Žižek einen provozierenden Zusammenhang zwischen Hiob und Paulus her (From Job to Christ: A Pauline Reading of Chesterton). Die nachfolgende Diskussion (Paul between Jews and Christians) setzt sich vor allem mit Badious Sichtweise auseinander, die als de-kontextualisierend, bloß formal und abstrakt inhaltsfrei kritisiert wird: Paulus werde als Paradigma einer universalen Singularität dargestellt, die in einem inhaltsfreien Ereignis gründe, das in entsprechender Weise auch in vielen anderen Situationen auf ganz andere Weise auftreten und ähnliche Wirkungen zeitigen könne. E. P. Sanders legt seine bekannte Sicht noch einem pointiert dar, dass man Paulus aus seinem historischen Kontext heraus verstehe müsse und auch nur so verstehen könne (Paul between Judaism and Hellenism), Dale B. Martin (The Promise of Teleology, the Constraints of Epistemology, and Universal Vision in Paul) und R. Kearney (Paul’s Notion of Dunamis: Bet¬ween the Possible and the Impossible) fassen ihre historischen bzw. hermeneutischen Zugänge zu Paulus knapp zusammen. Vor allem Paula Fredriksen (Historical Integrity, Interpretative Freedom: The Philosopher’s Paul and the Problem of Anachronism) versucht, gegenüber der philosophischen Pauluslektüre die historische Sichtweise stark zu machen. Paulus müsse in seinem eigenen Kontext und nicht in unserem Kontext verstanden werden. Allerdings sind ihre Darlegungen von einem methodologisch und hermeneutisch erstaunlich unreflektierten Modell historischer Arbeit geprägt. Zwar betont sie zu Recht, wie wichtig es ist, die Fremdheit des historischen Kontexts zu respektieren und die Vermittlungsleistung der Quellen im Positiven wie Negativen nicht aus den Augen zu verlieren. Aber die Frage, warum man sich überhaupt mit Paulus befassen soll, wird weder gesehen noch gestellt, und ebenso wenig die Frage, welche Bedeutung der eigene Standpunkt, die eigenen Interessenperspektiven und die immer nur traditions- und textvermittelten Zugangsweisen zu Paulus für die Rekonstruktion und das Verständnis der historischen Sachlagen hat. Systematisch markant ist demgegenüber der Beitrag von Daniel Boyarin (Paul among the Antiphilosophers; or, Saul among the Sophists). Auf der einen Seite begrüßt er Badious Analyse als einen der einsichtigsten Zugänge zum Verständnis des Apostels in den vergangenen Jahrzehnten. Auf der anderen Seite verfolgt er im zweiten Teil seines Textes genau jene postmodern-partikularisierende Sichtweise, gegen die sich Badiou gewandt hatte, indem er Paulus nicht als Fortsetzer der partikularen jüdischen Tradition, sondern als »Fall« des – von ihm positiv verstandenen – antiplatonischen Skeptizismus interpretiert. Dabei kommt es nicht nur zu ziemlich unkontrollierten Spekulationen darüber, wie Paulus in Tarsus in die Sophistik hineingewachsen sei (128 f.), sondern es wird auch unmissverständlich nahegelegt, dass nur eine sophistisch-skeptische Haltung gegenüber allen Wahrheitsansprüchen mit einer differenzsensitiven demokratischen Kultur in Einklang zu bringen sei: Paulus müsse als postcolonial sophist (132) verstanden werden, wenn er uns heute noch etwas zu sagen haben soll. Bovarins weitausgreifende Argumentation ist wohl vor allem als Auseinandersetzung mit dem Paulusbild seines früheren Paulusbuches zu lesen (A Radical Jew: Paul and the Politics of Identity, Berkeley 1994). Wie er dort Paulus in die platonische Tradition eingezeichnet hatte, so versucht er ihn jetzt als antiplatonischen Sophisten darzustellen. So oder so tut Bovarin genau das, was Badiou kritisiert hatte: Paulus zum Fall von etwas anderem zu verkürzen und so die Sicht für das radikal Neue bei Paulus zu verlieren. Eine abschließende Diskussionsrunde (Concluding Roundtable: St. Paul amon the Historians and the Systematizers) greift die Themen noch einmal auf, ohne zu abschließenden Feststellungen zu kommen.
Das ist auch nicht die Absicht dieses Bandes. Er stellt vielmehr die Zwischenbilanz einer spannenden und spannungsreichen Debatte dar, die Grundfragen der Paulusinterpretation aufwirft, die in den gängigen theologischen Zugängen häufig unterbelichtet bleiben. Welche ontologischen Probleme stellen sich, wenn man Paulus im Licht einer mathematischen Ontologie (Badiou) oder einer historisierenden Zugangsweise (Frederiksen, Sanders, Martin) liest? Wie ist das Verhältnis der jüdischen Tradition und des neuen christlichen Denkens bei Paulus genau zu bestimmen? Welche Denkmöglichkeiten des Neuen haben wir, die nicht auf schon Vorliegendes zurückgreifen? Kann man das sich entwickelnde Christentum verstehen, ohne auf den engen Zusammenhang zwischen Theologie und Politik zu achten? Gibt es radikal Neues als absoluten Bruch und Neuanfang in der Geschichte oder ist alles eine Variation und Fortsetzung vorausgehender historischer Wirklichkeiten? Welche Rolle und Funktion hat das Gesetz als Leitfaden, um Altes und Neues in jüdischer und christlicher Perspektive zu bestimmen? Wie ist das Verhältnis von Glaube und Gesetz zu fassen? Wird das paulinische Denken überhaupt zugänglich, wenn man den Rekurs auf Gott systematisch ausblendet? Kann man ein historisches Ereignis verstehen, ohne es im Licht der Möglichkeiten zu verstehen, die ihm im Licht seiner faktischen Entwicklung retrospektiv zuwachsen? Wie verhalten sich theologische, philosophische und historische Lektüren der Paulustexte zueinander?
Das sind nur einige der Fragen, die in diesem Buch in Hülle und Fülle aufgeworfen werden. Wer nicht nur Resultate rezipieren, sondern sich an einer vibrierenden Debatte beteiligen will, in der das paulinische Denken außerhalb eingefahrener Rezeptionsbah¬nen erneut und in unerwarteter Weise seine Virulenz, Problematik und Provokation entfaltet, der wird an diesem Buch seine Freude haben.

Ingolf U. Dalferth (Zürich/Claremont)

Weitere Bücher