Buch des Monats: Dezember 2018

Frigyesi, Judit Niran

Writing on Water. The Sounds of Jewish Prayer

Budapest u. a.: Central European University Press 2018. 280 S. m. zahlr. Abb. Kart. EUR 20,95. ISBN 978-963-386-257-5.

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Judit Niran Frigyesi hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Die in Ungarn geborene Musikwissenschaftlerin und Ethnomusikologin lehrt an den Universitäten Bar Ilan und Tel Aviv in Israel. Zu ihren Forschungsgebieten gehört neben der Musik Béla Bartóks und der Ritualmusik außereuropäischer Traditionen auch der Gebetsgesang der aschkenasischen Juden in Osteuropa. Um diese verklingende Tradition zu dokumentieren, hat sie in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Ungarn ein einzigartiges Korpus von Tondokumenten synagogalen Singens gesammelt. Das Buch berichtet von diesem Projekt sensibel, subtil und künstlerisch kreativ. Auf faszinierende Weise wird das methodische Grundproblem ethnologischer und ethnomusikalischer Forschung ins Zentrum gestellt: das komplexe, selbstinvolvierende und dynamische Beziehungsgeflecht zwischen der Forscherin und ihrem Forschungsgegenstand. Kann man sich mit Singen befassen, ohne selbst zum Resonanzboden der Töne, Geräusche und Lautgebilde zu werden, die man erforscht? Und kann man sich mit dem Gebet beschäftigen, ohne selbst ins Beten hineingezogen zu werden? Denn das teilen Gesänge und Gebete: Wer sich in der Beschäftigung mit ihnen nicht selbst zur Disposition stellt, wird nichts Wesentliches verstehen. Doch wie lässt sich die Nähe gewinnen, ohne die man nicht erfahren kann, was man nicht kennt? Und wie kann man die Distanz wahren, ohne die man nicht zu verstehen vermag, was man erfährt? Frigyesi verdeckt nicht durch vorgespielte Neutralität die existenziellen Abgründe, in die sie ihre Forschungen geführt haben, sondern zeigt an ihrer eigenen Geschichte auf, was es heißt, sich auf das singende Beten und betende Singen in dieser einzigartigen Tradition einzulassen.
Ihr Buch umfasst drei ungleiche Teile: »I. The Sound of a Thousand Walls« (1–174), »II. Voices« (175–212) und »III. Shards and Flowers« (215–264) . Der erste Teil beschreibt ihre Forschungen bis zu ihrem illegalen Weggang aus Budapest im Jahr 1980. Der zweite Teil lässt einige der ›Stimmen‹ zu Wort kommen, die sie gesammelt, transkribiert und analysiert hat. Der dritte Teil bietet rückblickende Reflexionen und kritische Kommentare zu der anders gewordenen Wirklichkeit synagogalen Betens im postkommunistischen Ungarn der Gegenwart. Jeder der drei Teile des Buches beginnt und endet mit einer Reihe schwarz-weißer Fotografien – szenische Schnappschüsse, die unkommentiert bleiben und das Erzählte, Berichtete und Analysierte visuell kommentieren, indem sie die Stimmungen, Wahrnehmungen und Gefühle anzeigen, die in den Texten zum Ausdruck kommen. Anders die Bilder von Personen, Gegenständen und Gebäuden, die in den Text eingestreut sind. Sie dokumentieren die Momente, Orte oder Personen, von denen ihre Texte handeln. Und sie fungieren als mediale Haltepflöcke und Erinnerungszeichen, dass das Erzählte von einer Wirklichkeit handelt, die nicht im Erleben der Erzählerin aufgeht, sondern dieses bestimmt.
Teil I beginnt mit sieben Fotografien eines Spitzenvorhangs, durch den fahles Tageslicht fällt. Sie markieren die Eingangsszene des Buches: Der Raum einer versteckten Hinterhofsynagoge in Budapest 1976, viertel vor sieben in der Frühe. Die Fenster sind durch Spitzenvorhänge verhängt, die anwesenden Männer beginnen mit dem Gebet. Frigyesi ist »the only woman and the only non-believer in the empty women’s section of a secret Jewish prayer house« (12). Hier wird sie erstmals mit einem jüdischen Gebetbuch und dem synagogalen Gebetsgesang konfrontiert. Das verändert ihr Leben. Sie kann daher vom Gegenstand ihrer Forschungen nicht handeln, ohne von ihrem Leben zu sprechen. Ihre eigene Lebens- und Familiengeschichte wird zum Resonanzboden ihrer Forschung.
Frigyesi wächst auf in einer jüdischen Arztfamilie im kommunistischen Nachkriegsbudapest. Man lebt nicht religiös, sondern säkular und weitgehend ununterscheidbar von der Umwelt, faktisch allerdings jüdisch und eingebunden in Erinnerungen, über die man nicht spricht. »In my family, the most important things were never said.« (21) Sie studiert an der Musikakademie in Budapest und beginnt 1976 mit 22 Jahren, an einem Projekt zur musikethnologischen Erforschung der orthodoxen Juden Budapests mitzuarbeiten. Mehr oder weniger durch Zufall gerät sie in dieses von amerikanischer Seite finanzierte Projekt, in dem es um die Sammlung jüdischer Volkslieder und Synagogenmusik geht. Ihre Aufgabe ist, Melodien zu sammeln, Lieder aufzuzeichnen, Töne festzuhalten, Gesungenes zu notieren. Da sie sich im religiösen Leben der jüdischen Gemeinde nicht auskennt, sucht sie Unterstützung in der Rabbinerschule von Budapest, lernt Rabbiner und Kantoren kennen, und beginnt in die ihr unbekannte Welt der Töne jüdischen Singens einzutauchen. Sie macht Tonaufnahmen in den Synagogen von Pest und sucht den Sprechgesang festzuhalten. Zunächst hat sie keine Ahnung, kennt die jüdischen Feste und Festgesänge nicht, kann kaum finden, um welche Texte im Gebetbuch es jeweils geht. Religion war für sie bis dahin kein Thema gewesen, »a useless past that belonged to old people« (49). Doch dann: »I do not know how it happened, but from a certain moment onward I found myself in the prayer house every Shabes morning.« (49) Sie zieht durch das verfallende Budapest der siebziger Jahre und sucht die oft kleinen und versteckten Synagogen auf, um die Gesänge aufzuzeichnen. Nicht immer ist sie willkommen, aber auf diesen Wanderungen und Wegen wird Budapest für sie zu einer Landschaft der Geräusche und Töne, die sich ihr unauslöschlich einprägen. Sie lernt die ihr unbekannten Texte in den Gebetsbüchern zu lesen, den richtigen Ton und die rechte Geschwindigkeit für ihre Rezitation zu finden, zu verstehen, welche Texte nur vom Vorsänger vorgetragen werden, und wo es einen Wechsel zwischen schweigendem Mitsprechen – »everybody says the full text in a silent voice – so silent that only the person praying hears his or her own voice« (57) – und der gesungenen Wiederholung des Textes durch den Kantor gibt, während der man mit seinen Nachbarn auch plaudern kann. Ein alter Kantor wird ihr Mentor, von ihm lernt sie das Wichtigste, bis er verschwindet und nicht mehr wiederkommt.
Sie beginnt, ihre Forschungen einzubinden in das Studium der Gregorianik und der ungarischen Volksmusik. Man versucht ihr einzureden, dass »Jewish music, as a separate culture, does not exist [...] it is a mishmash of whatever Jews found among surrounding people« (66). Die Arbeit mit ihren Informanten belegt das Gegenteil. Es eröffnet Dimensionen des Singens, die sie nicht geahnt hatte, »the forgotten language awakens – the sound-for-the-no-one-and-nothing.« (67). Sie lernt, wie Kantoren und Rabbiner zu Tradenten eines Singens und Betens werden, in das sie von Kindheit auf hineingewachsen sind, noch ehe sie als Jiddisch Sprechende die hebräischen Gebetstexte verstehen konnten. Sie erfährt, dass für das rechte Singen drei Dinge entscheidend sind: »davenen, nisech and kavunes« (70) – davenen, das tägliche Gebet, das jeder für sich selbst spricht, in welcher Weise und Melodie auch immer; nisech, das Gebet in Gemeinschaft, das mit einer besonderen Melodie und in einem bestimmten Stil gesungen werden sollte, die auch denn jeder im Kopf und im Gehör hat, wenn der Kantor frei improvisiert; und kavunes: »When you sing the prayer, you have to hold on to the idea – not the word itself, but the essence of the idea behind it. You have to concentrate on this essence and feel it, only it, without fantasies and explanations« (73). Wenn man so singt, dann singt man vom höchsten und tiefsten Ort her, »the place where He hides His face from us« (73). Jahrelang versucht Frigyesi, das »secret of davenen« zu verstehen, die Wirkung zu begreifen, die dieses Singen hat, »offer an explanation as to why these sounds, so hollow, lacking any musical sophistication, reach terrains deep below what we believe we possess insider ourselves« (77). Die Suche setzt sich fort auch nachdem sie Ungarn illegal verlassen hatte und in die USA umgesiedelt ist. Sie hört und analysiert ihre Aufnahmen immer wieder, bis ihr aufgeht, dass es in diesem Singen um Sehnsucht geht: »The longing of a man for his faith – the years of his youth spent in spirituality. Longing for a life swallowed by the flames. Longing for the master. Longing for the Place. For Him.« (81)
Musik zu machen lernt man durch Üben und Wiederholen, immer wieder und wieder, bis es die Finger von alleine tun, ohne sich darauf noch zu konzentrieren. Erst dann kann – wenn man Glück hat – der Moment kommen, an dem man hört, was man spielt. Und dann eröffnet sich eine ganz neue und andere Welt, die man bisher nicht gekannt hatte. Nicht jeder, der spielt, ist ‚in der Musik’, und nicht jeder, der im Bethaus betet, ist »in the prayer« (84). Nicht alles verdient, aufgenommen und als Datum der Forschung behandelt zu werden. »‚Being in the notes’ is something else than understanding« (84). Für Frigyesi erschloss sich vom Musikmachen her, worauf es beim Beten ankommt. Wer die Noten richtig spielt, hat noch nicht Musik gemacht. Sie kam von der Musik her zum Gebet, und zunächst war die Musik für sie alles. »The scores of Bach, Beethoven, Schumann, Chopin, Brahms, Schoenberg, Berg, Bartók and the other ‚greats’ were our Torah. They were the truth, and we were ready to give our lives for it.« (92) Aber dann »something went wrong«. »I longed for sounds that spoke tentatively – not of grand emotions, but of the silence beneath them. I dreamt of music where instead of an ›I‹ telling a story, there would be merely voices hovering in the air.« (93) Eben das fand sie im Singen in der Synagoge. »As I decended in the world of traditional Jewish communities, I began to understand that it was not the notes that compelled me, but the whole: their lives – a life that was music. The sounds of the prayer hall were coarse, chaotic and ruffled, arbitrary and unplanned. They evoked in me the mystery of existence.« (94)
Frigyesi macht von 1977 bis 1980 hunderte von Aufnahmen in den ungarischen Synagogen. Ihr Auftrag von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften war, eine »Critical Edition of Hungarian Jewish Songs« (133) zu erstellen. Aber dann stellte sie fest, dass in den Synagogen »only a few texts were performed as songs« (134). Es wurde zwar ständig gesungen, aber die Texte wurden selten als Lieder gesungen. Sie nahm vieles auf, und die Vielzahl der Aufnahmen machte sie allmählich fähig, sich mit dem Material analytischer zu befassen (113). Sie begriff, dass es nicht nur eine Weise gab, die Gebete zu singen. Zwei ihrer Hauptquellen, Gärtner und Roth, belegen das exemplarisch. »For Gärtner, prayer meant the succession of miniature broken-up melodies. For Roth, it was the boundless, never- endening flow of notes.« (119). Sie transkribiert ihre Aufnahmen, Melodie, Rhythmus, jedes Detail (120). Aber bei jedem Hören der Gesänge hört sie einen neuen Puls. Sie will aufgeben, weil sich das nicht eindeutig transkribieren lässt. Aber dann geht ihr auf: »prayer is like life. A melody is life. And life: multiple pulsations and rhythms going on at the same time. [...] It is impossible to systematize.« (124 f). Ihre Frage »Why is it that we Jews don’t sing together?«, wird daher beantwortet: »the songs are not necessary for the prayer« (136). Sie sind wichtig für »this whole thing«, but entscheidend ist es, seine eigene Stimme im eigenen Singen zu finden. »Every person and every community and every era has its style.« (138). Versuche, »to create a community through union in prayer [...] appear laughable. [...] Nobody stands with you in prayer. You are alone. Before God and before yourself: you are alone.« (156)
Der zweite Teil des Buches (Voices) präsentiert dementsprechend die Stimmen einiger ihrer Informanten. Frygesi greift nicht in das Material ein, sondern transkribiert, was ihr erzählt wurde. Wie ein cantus firmus durchzieht diese Transkriptionen die Feststellung, von einer untergehenden Welt zu berichten: »I am the commander of a sinking ship« (194), »this business with the shul, the anxiety I have getting ten people together – I am already nervous days before Shabes.« (195) »Perhaps is is time to close up shop ... to give up this community. [...] it is one thing to pray, and another to pray in a congregation that’s really yours.« (195) Die Intensität und Privatheit des Betens, seine Intimität und die Verletzbarkeit der Beter ist überall mit Händen zu greifen. Selten wurde die existenzielle Fragilität des Betens so eindrücklich dokumentiert wie hier.
Ein Schlussteil (III. Shards and Flowers) beschreibt die veränderte Situation nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes. Frigyesi kehrt nach Jahren wieder nach Budapest zurück. »I found wonderful prayer leaders [...] but no community where I could have lived through the mystery of the ritual as I remembered it. [...] Within less than a decade after the fall of Communism, the traditional communities disappeared. They were replaced by communities of the young, the healthy and the energetic, by a religion in the present tense that was transparent, obvious and immediate. The service became an attainable reality, and precisely for this reason, it seemes utterly unreal to me.« (243) Wenn die neuen, von amerikanischen Juden bevölkerten Gemeinden Gebete singen, beginnen die Alteingesessenen betreten zu schweigen. »Our people did not join in; they felt embarrassed.« (245). Ihre Gebete und Gesänge »were of people who lived by faith – but this faith was full of questions.« (245). Die Brüchigkeit ihres Lebens manifestierte sich in der Brüchigkeit ihres Singens und Betens. Diese alte Praxis war mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes zum Ende gekommen. »This practice disintegrated before my eyes, and within an few years faded out of existence.« (245) Wer im Gebet nicht seine eigene Stimme findet, die das Leben in seinem Auf und Ab, mit seiner Freude und seinem Leid, seiner Fröhlichkeit und Traurigkeit, seinen Höhepunkten und Glücksmomenten und seinen Sehnsüchten, Enttäuschungen und Dunkelheiten zu Gehör bringt, der wird nicht verstehen, worum es beim Beten geht. Beten ist kein gelegentlicher religiöser Akt in einem ansonsten profanen Leben. In ihm artikuliert sich das Ganze des Lebens, nicht nur das Gute und Gelungene, sondern stets auch die Brüche, Verletzungen und Wunden, die sich einem Leben eingegraben haben. Alles findet im Beten eine Stimme. Kein Leben, in dem und für das gebetet wird, verhallt deshalb echolos im Nichts.
Frigyesis Buch ist ein eindrückliches Mahnmal gegen das Verharmlosen, Verschwinden, Verdrängen und Vergessen des Betens. Sie hält in Erinnerung, was beim Beten auf dem Spiel steht – nicht nur beim Gebetsgesang des osteuropäischen Judentums, von dem sie handelt, sondern bei jedem rechten Beten: die Menschlichkeit der Menschen in der Fülle des Lebens.

Ingolf U. Dalferth (Claremont)

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