Buch des Monats: Juli/August 2015

Luz, Ulrich

Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2014. XXIX, 579 S. Geb. EUR 39,00. ISBN 978-3-7887-2877-9

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Viele aktuelle Debatten in der Kirche lassen sich – wenn man will – auf Unklarheiten im Schriftverständnis und Schriftgebrauch zurückführen. Sei es bei ethischen Streitfragen wie der nach der Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, sei es bei hermeneutischen Grundsatzfragen wie der nach der Stellung des Alten Testaments, sei es bei politischen Stellungnahmen der Kirchen – immer stehen, reflektiert oder unreflektiert, bestimmte Positionen zu Aussagen der Bibel im Hintergrund. Eine der vornehmsten Aufgaben der Theologie ist es daher, ihr Verständnis der Schrift in Theorie und Praxis aufzuklären. Dieser Aufgabe widmet sich das Buch des emeritierten Berner Neutestamentlers Ulrich Luz. Gleich zu Beginn charakterisiert er seinen Ansatz als ekklesiologisch: „Wie kann eine Kirche auf eine Bibel bauen, die scheinbar beliebig interpretierbar ist?“ (10) Für Luz hat Hermeneutik „immer eine ekklesiologische Dimension“, und schon im Vorwort bekennt er: „Die Kirche ist mir wichtig. Meine Hermeneutik kreist ständig um die Kirche.“
Ulrich Luz kommt als reformierter Schweizer theologisch im weiteren Sinne, vermittelt über seine Lehrer Eduard Schweizer und Hans Conzelmann, aus der Schule Rudolf Bultmanns (s. dazu seine „Persönliche Einführung“, 1–7). Bekannt geworden ist er vor allem durch seinen monumentalen Matthäus-Kommentar im „Evangelisch-Katholischen Kommentar zum Neuen Testament“ (vier Bände mit insgesamt mehr als 2000 Seiten), den er inzwischen auch als Mitherausgeber verantwortet. Darüber hinaus hat er sich an den hermeneutischen Debatten der protestantisch-deutschsprachigen Exegese der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beteiligt, etwa intensiv Paul Ricoeur rezipiert. Damit sind bestimmte Markierungen verbunden, innerhalb derer er sich positioniert. Die Felder, die er in seiner Hermeneutik bearbeitet, sind aber sehr viel weiter, und das hat viel mit der Persönlichkeit von Ulrich Luz zu tun. Im Vorwort betont er den persönlichen Impuls, den er verspürt hat, dieses Buch zu schreiben: „Ich wollte Klarheit für mich selbst“.
Wie kaum ein anderer aus der Zunft der Neutestamentler strahlt Ulrich Luz aus, was in der theologischen Tradition des vorigen Jahrhunderts „theologische Existenz“ genannt wurde. Und wie wenige andere wendet er sich Regionen und Aufgaben zu, die von der etablierten akademischen Theologie gern links liegen gelassen werden, etwa der Tradition und Gegenwart ostkirchlich-orthodoxer Theologie und Exegese, den kulturellen und religiösen Überlieferungen des Buddhismus in Japan oder den politischen und sozialen Kontexten afrikanischer und lateinamerikanischer Bibelwissenschaftler.
Damit weitet sich der Horizont seiner Hermeneutik. Man ist erstaunt, welche Gebiete sich hier erschließen und welche Aussichten sich ergeben. Schon im Durchgang durch vorliegende neuere Hermeneutiken fällt in der Überschrift das Stichwort „europäisch“ auf. Behandelt werden hier eben nicht nur, wie zu erwarten, Barth, Bultmann, Ebeling usw., sondern ebenso gründlich angelsächsische Autoren wie A. Thiselton, F. Watson, K. J. Vanhoozer und P. F. Esler, und man spürt deutlich, wie intensiv sich Luz mit ihren Ansätzen auseinandergesetzt hat. Dazu kommen (natürlich) die orthodoxen Griechen J. Breck, T. Stylianopoulos und J. Panagopoulos sowie später im Kapitel zur Befreiungstheologie noch zahlreiche Autorinnen und Autoren aus Afrika (J. S. Ukpong, G. O. West), Asien (R. S. Sugirtharajah) und Lateinamerika (G. Gutiérrez, C. Mesters) bis hin zur stark US-amerikanisch geprägten feministischen Hermeneutik (E. Schüssler-Fiorenza) und den „post-colonial studies“. Es ist erfrischend, wie hier die eingefahrenen, engen Gleise der (bestenfalls) zentraleuropäischen hermeneutischen Debatten verlassen werden und Anfragen auf- und ernst genommen werden, die sich aus globaler Perspektive stellen.
Dabei ist der Durchgang durch all diese stark voneinander divergierenden Ansätze durchweg gründlich und differenziert, nicht selten kritisch und immer geleitet von dem Bestreben, „Leitlinien der Wahrheit für die Auslegung neutestamentlicher Texte“ zu gewinnen. Luz scheut sich nicht, für die Überschrift des abschließenden, seine eigene Konzeption der Hermeneutik zusammenfassenden Kapitels den Wahrheitsbegriff zu gebrauchen. Mit „Leitlinien“ wählt er eine Metapher, die einen Weg verantworteter Schriftauslegung zwischen Pluralität und Beliebigkeit weisen soll, die Orientierung gibt „für die Wanderung auf dem schmalen Grat zwischen dem universalen Wahrheitsanspruch, den der christliche Glaube und viele biblische Texte stellen, … und der Freiheit, welche zum Verstehen des Evangeliums und der biblischen Texte gehört“ (521; auch sonst zeigt sich im reichen Metapherngebrauch die Erfahrung des langjährigen Alpenwanderers).
Gibt es somit aufseiten der biblischen Texte diese unhintergehbare Spannung zwischen Pluralität und Beliebigkeit, so entspricht ihr aufseiten der Interpreten der Schrift das Prinzip des Dialogs (auch darin zeigt sich Luz als ausgereiftes „Kind“ der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts). Eine „Hermeneutik des Dialogs“ will er bieten, in der „Text und Interpreten gleichberechtigte Partner sind und kein Dialogpartner den andern unterdrückt“ (523; „Neutestamentliche Exegese im Dialog“ war auch der Titel der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag). Die Entfaltung der hermeneutischen Konzeption von Ulrich Luz kann hier ebenso wenig dargestellt werden wie die theologischen Linien nachgezeichnet werden können, die er dabei immer wieder zieht – dazu wird es noch eine ausführliche Besprechung in der Theologischen Literaturzeitung geben. Der dialogische Grundcharakter seiner Darstellung lädt von der ersten bis zur letzten Seite zum faszinierten Fragen, Mitdenken und Weiterdenken ein, zum Dialog mit dem Autor ebenso wie mit Zeitgenossen, die sich wie er oder anders als er um ein zeitgemäßes Verständnis der Schrift bemühen.

Karl-Wilhelm Niebuhr (Jena/Leipzig)

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