Buch des Monats: Dezember 2014

Elias Canetti

Das Buch gegen den Tod

M. e. Nachwort v. P. von Matt. Aus d. Nachlass hrsg. v. S. Hanuschek. München: Hanser Verlag 2014. 351 S. Geb. EUR 24,90. ISBN 978-3-446-24467-2.

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Zwischen Leben und Tod herrscht Todfeindschaft. Darüber können auch die schmeichelnden Annäherungen des Todes nicht hinwegtäuschen, die Matthias Claudius in ‚Der Tod und das Mädchen’ so treffend in Worte und Schubert kongenial in Töne gefasst hat: „Gib deine Hand, du schön und zart Gebild! / Bin Freund, und komme nicht, zu strafen: / Sei gutes Muts! ich bin nicht wild, / Sollst sanft in meinen Armen schlafen“. Sanft mag der Tod kommen, aber er bleibt der Todfeind des Menschen, ob er brutal ins Leben einfällt oder sich hinterlistig einschleicht. Kaum einer hat das im 20. Jahrhundert in immer wieder neuen Anläufen so eindringlich zum Gegenstand intensiven Widerspruchs und Nachdenkens gemacht wie Elias Canetti. Er traute dem Tod nicht über den Weg, er empfand den „Tod als Beleidigung“ (230) und er hasste ihn: „Unser Krebsgeschwür ist der Tod, er steckt alles mit sich an.“ (219) Deshalb bekämpfte Canetti ihn sein ganzes Leben lang mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln des aufdeckenden Wortes, des entblößenden Spotts, des glasklaren Blicks, des kompromisslosen Protests und des geschliffenen Gedankens.
20 Jahre nach seinem Tod haben Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger unter Mitarbeit von Laura Schütz im Hanser Verlag Canettis umfangreichen Nachlass zu diesem Thema veröffentlicht. Nach Masse und Macht ist Das Buch gegen den Tod Canettis zweites großes Werk. Man sollte es langsam und aufmerksam lesen. In chronologischer Ordnung präsentieren die Herausgeber Canettis Notizen zu einem „Totenbuch“ (7-14) sowie seine Aufzeichnungen 1942-1994 (15-306). Für jedes Jahr werden zunächst die von Canetti selbst in anderem Zusammenhang veröffentlichten Aufzeichnungen angeführt und dann das bisher nicht publizierte Material. Fremdsprachige Zitate werden unmittelbar im Anschluss ins Deutsche übersetzt (von Karen Lauer). Ein kluges und stilsensibles Nachwort von Peter von Matt, das in Stil und Inhalt Canettis Aufzeichnungen gerecht wird, bahnt einen Weg, der Orientierung bietet im weiten Feld der über Jahrzehnte entwickelten Gedanken (308-329). Editorische Notizen (330-332) und ein umfangreicher Index (333-352) runden den Band ab.
Zu jedem Jahr im langen Zeitraum zwischen 1942 und 1994 gibt es Aufzeichnungen über den Tod, manchmal viele, gelegentlich nur einige (1944, 1949, 1954, 1959, 1961, 1964, 1974, 1988), besonders umfangreiche zu Beginn der achtziger und der neunziger Jahre. Selten sind es Verse (1944), häufig präzise Fragen und Beobachtungen („Sag dich von allen los, die den Tod hinnehmen. Wer bleibt dir übrig?“: 1943; „Wäre eine Sprache lebensfähig, die das Wort Tod nicht kennt?“: 1952; „Es gibt nur Einsamkeit gegen Lebende. Gegen Tote gibt es keine Einsamkeit. Sie sind immer da.“: 1965; „Die größte Anstrengung des Lebens ist, sich nicht an den Tod zu gewöhnen.“: 1967; „Der Tod läßt sich nicht erzählen.“: 1970; „Über den Tod schweigen. – Wie lange hältst du das aus?“: 1978), hellsichtige Kommentare („Die Abschwächung des Christentums, wenn man an die Großartigkeit der Bergpredigt an die Qual des Todes Christi denkt, ist für mich unerträglich.“: 1971), spitze Bemerkungen („Er konnte nicht sterben, bevor er alle Nachrufe auf sich gelesen und ausgebessert hatte“: 1942; „Als der berühmte Journalist starb, fanden sich in seinem Nachlaß zwölf Kisten mit Leitartikeln für die kommenden achtzig Jahre“: 1947), kritische Kommentare zu Todes-Apologeten wie Montaigne (1980) oder „Liebhaber des Tötens“ wie Nietzsche (1986), aber auch über Kollegen wie Hemingway (1962), Thomas Bernhard (1976), Thomas Hürlimann (1990) oder Max Frisch (1991), theologische und antitheologische Reflexionen („Die Auferstandenen klagen plötzlich in allen Sprachen Gott an: das wahre Jüngste Gericht“: 1947; „Einer läßt sich kreuzigen, um zu zeigen, daß nichts daran ist“: 1954; „Ich begreife die Religion, wie ich sie noch nie begriffen habe, ein Gefühl, das man nur als religiöses bezeichnen kann, beherrscht mich jetzt ganz und gar. Religion ist das Gefühl einer Verbindung mit den Toten. Vielleicht war in manchen Menschen dieses Gefühl so stark, daß es die Toten wirklich belebt hat. – Christus?“: 1956; „Und wenn Gott sich aus Scham über den Tod von der Schöpfung zurückgezogen hätte?: 1967; „Einen Gott des Lebens sehe ich nirgends, nur Blinde, die ihre Untaten mit Gott verbrämen.“: 1971; „Der Gedanke an einen einzigen Menschen, den man verloren hat, kann einem Liebe zu allen anderen geben. Wen hat Christus verloren? Die Lücke in den Evangelien.“: 1971; „Es gibt nur die Religionen, die etwas über den Tod zu sagen haben. Die Philosophen sagen über ihn nichts.“: 1987; Wer sich den Tod nicht ausreden läßt, hat am meisten Religion.“: 1990; In jedem Tote stirbt die ganze Welt. Das ist der Sinn von Christus am Kreuz.“: 1990), und von Anfang bis Ende immer wieder kritische Selbstreflexionen („Es geht mir nicht um seine Abschaffung, die nicht möglich sein soll. Es geht mir um die Ächtung des Todes.“: 1980; „An nichts habe ich mich gewöhnt, an nichts, und am wenigsten an den Tod.“: 1981; „Wer über den Tod geistreiche Dinge sagen kann, wer das über sich bringt, der verdient ihn.“: 1987). Der Bogen der Themen ist weit gespannt und bietet Nachdenkenswertes zu Sterben, Morden, Töten, Leben, Überleben, Macht, Zeit und vielem mehr, was im Reden und Schreiben gegen den Tod zu bedenken ist. Stilsicher und gedankengenau sind Canettis Aufzeichnungen, und sie bauen im Verlauf der Jahre ein Netz von Verweisungen auf, die das Unfassbare des Todes umkreisen und einkreisen, ohne es zu verleugnen oder zu überspielen.
Immer wieder hatte Canetti daran gezweifelt, das anvisierte Buch jemals fertigstellen zu können. Aber jetzt liegt es so vor, wie er es sich gewünscht hatte: „Am liebsten wäre es mir, ich könnte dieses Buch auch als ein anderer schreiben.“ (1987) Als ein wirklich anderer hätte er von der anderen Seite des Todes schreiben müssen, und er wusste, dass das nicht geht. Andere haben jetzt vorgelegt, was Canetti gegen den Tod geschrieben hat, als Lebensprojekt selbst aber nicht zum Abschluss bringen konnte. Im Streit gegen den Tod, der auch als der eigene stets der Tod überhaupt ist, kann man nur verlieren. Aber das heißt nicht, dem Tod das letzte Wort zu überlassen. Im Gegenteil. Solange es den Tod gibt – das belegt auch diese unerbittliche Streitschrift gegen den Tod – wird es allerdings nie nur das eigene Wort sein können, das dem Tod widerspricht, sondern immer auch das Wort anderer sein müssen.

Ingolf U. Dalferth

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