Buch des Monats: Juli/August 2017

Henrich, Dieter

Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin.

München: C. H. Beck Verlag 2016. 493 S. Lw. EUR 39,95. ISBN 978-3-406-66324-6.

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Der Titel dieses gewichtigen Buches ist umständlich, aber präzis: Es geht um »Erkundungen«, ein kontemplatives Durchdenken von Grundfragen der Philosophie: Ich, Sein, Nichts, das Absolute. Nur der Ausgangspunkt ist im Titel nicht genannt bzw. im Namen des Autors versteckt: das »Ich bin«, dessen Grundgewissheit und Nichtrückführbarkeit auf noch Grundlegenderes Dieter Henrich ein Leben lang beschäftigt hat. Nur von innen kann man sich dieser Gewissheit vergewissern, und nur in kontemplativer Entfaltung kann man sie erkunden. Jeder Blick von außen auf diese Grundkontingenz ist verwehrt. Wo man sich der Grundgegebenheit des eigenen »Ich bin« im bewussten Leben aber eingedenk wird, hat man den Standpunkt gewonnen, von dem aus sich das Ganze erschließen lässt, in das man eingebunden ist: die Welt. Aber diese Welt kommt nicht als bloße Einheit des Vielen in den Blick, mit dem man sich im Leben beschäftigen kann und muss. Sie ist in scharfer Wendung gegen Heidegger auch nicht das, in dem sich das »Ich bin« immer schon vorfindet, so dass die Weltgewissheit die Selbstgewissheit überbieten könnte oder mit ihr »gleichursprünglich« wäre (381-410). Der Tod widersetzt sich solcher Gleichursprünglichkeitsillusion und »lässt den Gedanken an ein Unvergängliches, das doch dem Dasein des Endlichen und Endenden zugehörig ist, zu einer notwendigen Frage werden« (453). Aber der Horizont dieser Frage ist eben, dass sich die Welt dem »Ich bin« in der nichtauflösbaren Grundspannung zwischen »Sein« und »Nichts« aufdrängt, beides »Ganzheiten«, beide sich gegenseitig ausschließend, und doch nicht nur in einem logischen Gegensatz aneinandergebunden, sondern als Pole der Bemühung, in der das Ich sein »Ich bin« im Bezug auf das Ganze zu erkunden sucht.
Das Besondere dieses Buches ist nun, dass Dieter Henrich sein Lebensthema nicht primär im sich selbst fortschreibenden Diskurs philosophischer Kontemplation entfaltet, sondern als Erkundungen »um« zwei Autoren, die nur den überraschen, der sie noch nicht gelesen hat: Samuel Beckett und Friedrich Hölderlin. Hölderlins Denken wird als Paradigma der Grundorientierung am ungeschiedenen »Sein« präsentiert, in dem sich alles Trennende in letzter Einheit aufhebt. Beckett dagegen wird als der vorgestellt, der »das Nichts« ins Zentrum stellt, »weil es alles, was ist, in seinem `Fallen´ und im Hingleiten zu einem Enden durchzieht.« (8) Im ersten Teil des Buches rekonstruiert und analysiert Henrich aufmerksam und genau die Beziehung Becketts zu Hölderlin. Im zweiten Teil werden philosophische Überlegungen zu »sein« und »nichts« vorgetragen, die manches aus Henrichs früheren Werken rekapitulieren. Im dritten Teil wird im Licht dieser philosophischen Analysen das Werk Hölderlins und das Werk Becketts insgesamt unter den Leitgesichtspunkten von »Sein« und »Nichts« interpretiert. Der vierte Teil entfaltet dann jene Form des Denkens von Sein und Nichts, die sich seit 1800 als die grundlegend verwandelte Form der Metaphysik herausgebildet hat. Der ganze Gedankengang ist weniger eine philosophische Summe des Lebenswerks von Henrich (auch wenn man das so zu lesen nicht vermeiden kann), sondern vor allem ein aufmerksames und mitdenkendes Sicheinlassen auf Hölderlin und Beckett. Auf ganz andere Weise als bei Heidegger wird deutlich, wie die Philosophie von der Dichtung lernen und wie sich Dichten und Denken in der philosophischen Kontemplation gegenseitig zu befruchten vermögen.
Entscheidend für Henrichs Lektüren beider Dichter ist, dass in der Auseinandersetzung mit Hölderlins und Becketts Werk der »Gegensatz in dem Paar `Sein´ und `Nichts´ [...] nicht aufgelöst« wird, sondern gerade als solcher »mit seiner Forderung nach einer Option zwischen beiden seine Bedeutung für das bewusste Leben der Menschen« behält (9). Man kann so oder so den Ganzheitshorizont seines Lebens fassen, das »oder« im Haupttitel unterstreicht das. Keine der beiden Optionen kann der anderen den Rang ablaufen. Aber man kann auch nicht bewusst leben und sich einer Entscheidung enthalten. Henrich zeigt das in gründlichen und manchmal etwas umständlichen Gedankengängen auf. Die »Gedankenprogramme von Sein und Nichts« sind mit der »Notwendigkeit einer Option« verbunden, der sich niemand entziehen kann (492).
Erst im Schlussteil des Buches macht Henrich den erwarteten Schritt, die Spannung nicht auf den einen oder anderen Pol hin aufzulösen, sondern im Gedanken des Absoluten aufzuheben, den die polare Doppelheit von »Sein« und »Nichts« konkretisiert. Vorsichtig und andeutend wird dann sogar von »Gott« gesprochen, aber ausschließlich im Duktus einer philosophischen Theorie, die das bewusste Leben in seinem Vollzug und seiner Selbstsicht entfaltet. Der, an den der Dank für das eigene Leben zu adressieren ist, darf »nicht als unpersönlich«, sondern muss »als überpersönlich gedacht werden« (425). Das hatte die Metaphysik nach Kant im Gedanken des Absoluten zu fassen versucht. Der »Prozess des Aufstiegs zu einem Gedanken vom Absoluten« kann dann rückblickend als »Ausgang von dem Prinzip« verstanden werden, »auf das hin er ausgelegt war: »Es ist, wie immer es näher zu fassen sein mag, das `Absolute´, dem das eigenständig-endliche Leben in der Faktizität der Subjekte in grundsätzlicher Betrachtung selbst zugehört, ohne darüber seine Eigenständigkeit zu verlieren« (462). Hier aber stößt die philosophische Kontemplation an ihre Grenzen. Man kann zwar noch andeuten, wie das Absolute zu denken ist, »damit eine Beziehung von Subjekten zu ihm denkbar wird, die nicht zu den Gehalten der Beziehung von Subjekten zu Subjekten inkommensurabel« ist (485). Aber eine »adäquate Erkenntnis des Absoluten ist nicht möglich« (488). Alles Denken des Absoluten kann die Differenz zum Absoluten nicht aufheben, sondern bleibt »in den Endlichen verankert«, die es zu denken versuchen (488). Die darin angedeutete Abgrenzung gegenüber Hegel ist nicht zu überhören.
Henrichs ausführliche Gedankengänge sind von Anfang bis Ende eine kontemplative Einübung in die Endlichkeit des eigenen Lebens und Verstehens. Bewusstes Leben drängt auf Verstehen, aber es kommt dort zu seiner tiefsten Einsicht, wo es versteht, dass es das nicht verstehen kann, ohne das es sich selbst nicht zu verstehen vermag. Theologie tut gut daran, das zur Kenntnis zu nehmen. Aber würde sie es nur mitsprechen, hätte sie sich erübrigt.

Ingolf U. Dalferth (Tübingen)

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