Buch des Monats: Mai 2020

Günter de Bruyn

Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll

5. Aufl. Frankfurt (Main): S. Fischer Verlag 2019. 269 S. Geb. EUR 23,00. ISBN 978-3-10-397390-7

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Mit 92 Jahren hat der 1926 in Berlin geborene Günter de Bruyn noch einmal ein großes Buch vorgelegt – einen Familienroman, der eine Art Panorama deutscher Geschichte und ihrer menschlichen Irrungen bis in die Gegenwart hinein darstellt. Das 2018 erschienene Buch liegt inzwischen in der 5. Auflage vor – ein guter Grund, es hier vorzustellen.
Zumeist erzählt der Autor aus der Perspektive von Leonhardt Leydenfrost (Leo). Wie de Bruyn hat Leo in Ost-Berlin als Bibliothekar gearbeitet und sich nachhaltig geweigert, in die SED einzutreten. So konnte Leo zwar nicht aufsteigen, war aber mit dem Leben in seiner Bibliothek zufrieden. Mit Beginn des Ruhestands zog er sich ins brandenburgische Wittenhagen zurück, wo er nun im elterlichen Gutshaus wohnt. Für eine einzelne Person wäre »die Villa« zu groß, Leo teilt sie mit seiner Schwester Hedwig, seiner Tochter Wilhelmine und deren Sohn Walter sowie Hedwigs erwachsener Adoptivtochter Fatima, ein bosnisches Flüchtlingskind, das in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen war. Die Liebe zur Literatur hat Leo mitgenommen. Er versucht sich sogar selbst als Autor, leider reicht es jedoch nie zur Vollendung eines Werkes. Leo ist besser im Beobachten als im Schreiben. Er schaut und macht sich Gedanken. Er sieht die Schwächen und Verirrungen der ihn umgebenden Menschen, auch die eigenen, und spießt sie auf, zumeist jedoch eingebettet in Humor und lebenskluge Liebenswürdigkeit. Wenn es jedoch um die »fortschreitende Verschandelung« seines »geliebten Deutsch« durch angeblich politisch korrekte und gendergerechte Sprache geht, ärgert sich Leo wirklich, erfreulicherweise aber so, dass ihn dieser Ärger am Sterben hindert. Leo – und mit ihm vermutlich Günter de Bruyn selbst – wartet »noch auf einen ersten Anschein von Rückbesinnung, um am Grabe die Hoffnung aufpflanzen zu können« (S. 269).
Der rote Faden von de Bruyns Gesellschaftskritik ist die Abwehr eines falschen Fortschrittsoptimismus, der vom Nationalsozialismus angefangen über das DDR-Regime und westdeutsche sozialistisch-kommunistische Bewegungen bis zur Gegenwart die fatale Tendenz hat, zu freiheits- und demokratiegefährdenden Ideologien zu verkommen. Diesbezüglich ist auch das ländliche Idyll des Untertitels nicht wirklich idyllisch.
Seinen Anfang nimmt der Roman im August 2015, im Jahr der Willkommenskultur also. Leos Schwester Hedwig feiert ihren 89. Geburtstag, was die Frage aufwirft, wie demnächst ihr 90. würdig begangen werden soll. Hedwig hatte in jungen Jahren Ostdeutschland verlassen und war erst im Alter zurückgekehrt. Im Westen war sie zu einer Wortführerin der außerparlamentarischen Opposition geworden und zählt zu den Gründungsmitgliedern der Grünen. Die allerdings werden als solche nie genannt, sondern erscheinen sarkastischerweise nur in Gestalt von Frau Grünlich, die eine Rede der legendären Hedy anregt, da nicht nur »alle Parteifreundinnen und -freunde, sondern auch unsere Wählerinnen und Wähler wie auch andere Bürgerinnen und Bürger« (S. 234) wissen wollen, wie sie heute über aktuelle Themen denke.
Es ist anrührend zu lesen, wie Leo nie in der Liebe zu seiner Schwester nachlässt, obwohl er keine ihrer politischen Vorstellungen teilt, was schon in Kinderzeiten begonnen hatte. Während Hedwig ein begeistertes Jungmädel war, sah Leo zu, dass er, so gut es eben ging, Abstand zur Hitlerjugend hielt. Trotz aller Unterschiede aber sind die Geschwister einander wichtig. Das gilt leider nicht für Leos vor Zeiten an die Stasi verlorenen Sohn Rainer. So sehr sich Leo über die Jahrzehnte bemüht, Rainer lehnt auch nach der Wiedervereinigung dauerhaft jeden Kontakt ab. Dass der Sohn geworden ist, wie er geworden ist, quält Leo bis zum Selbstzweifel. Das ist seine zwar verdeckte, sich aber nie schließende Wunde. Etwas mehr Glück hat er mit der Tochter Wilhelmine, bei der freilich eine gewisse Oberflächlichkeit konstatiert wird und die dazu neigt, unsympathische Männer in die Familie zu bringen. Hoffmann, zu dem sich langsam eine Beziehung anbahnt, ist eine umtriebige Lokalgröße, einer von denen, die in jedem System oben schwimmen. Und damit sozusagen das Gegenstück zu Leo. Doch was nützt es, Tochter ist Tochter, da muss Hoffmann dann und wann ertragen werden. Leo ist langmütig – Liebender, der er ist. Frei gegen Adorno lebt er damit im falschen Leben das richtige.
Zum Glück gibt es aber auch Lichtgestalten in Leos Leben. Die wichtigste war seine inzwischen verstorbene Frau. Unter den Lebenden sind es Hedwigs Adoptivtochter Fatima, die seine Liebe zur Literatur teilt, und die neue Pastorin Anna, mit der die Kirche ins Spiel kommt. Und die Kritik an der auch hier zu beobachtenden Fortschrittsgläubigkeit. Bis Anna kam, gab es dann und wann einen Vertretungspfarrer, der zu Weihnachten das Lukas-Evangelium von Luthers altertümlichen Wendungen »reinigte« und der Ansicht war, dass die Hirten die »global zu verstehende Botschaft der Engel« als cool empfanden (S. 34). Nun aber ist Anna da. Die auch noch »schöne Predigerin« vermag in Leo das »schlummernde Christliche, das die Radioprediger geschädigt hatten, wieder ein wenig aufblühen zu lassen, so dass ihm seine kleine Verliebtheit in die Gottesdienerin gerechtfertigt erschien« (S. 144). Geschafft hatte sie das mit einer Predigt, die darauf abhob, dass dem Göttlichen nicht mit Aufklärung beizukommen ist und Religion zwar auch Morallehre sei, aber das Evangelium vor allem bedeute, dass Gott Mensch geworden ist (143). Leider jedoch wird die unkorrekte Pastorin, bei der Flüchtlingshilfe und Umweltschutz erst an zweiter Stelle kommen, wieder wegversetzt. Es kommt ein neuer Pastor, der »ein feste Burg ist unser Gott« nicht über die Lippen bringt und mit geschlechtsneutralen Bibellesungen »die letzten Kirchgänger« vertreibt (S. 268). Das ist nun etwas dick aufgetragen, soll aber da und dort vorkommen. Sei es, wie es sei, für Leo geht die Sache jedenfalls gut aus. Fatima und Anna befreunden sich. Zwar leben beide nicht mehr in Wittenhagen, aber Leos Liebe hat fortan ein Ziel, das in bescheidener Weise auf verstehende Gegenliebe hoffen darf.
Was ist dieser Roman? Enttäuschtes Missverstehen der neuen Zeit eines alten Mannes oder hellsichtige Analyse eines Menschen, der fast ein ganzes Jahrhundert denkend miterlebt hat? Die Antwort der Rezensentin ist klar: Letzteres. Damit aber bezieht sie Position. Denn schaut man auf die Rezensionen zum Buch, so zeigt sich keinerlei Einheitlichkeit. Sie reichen von vielfacher begeisterter Zustimmung über freundliche, aber verhaltene Wertschätzung bis hin zur klaren Ablehnung, die das Buch »auf eine traurige Weise polemisch und ungerecht« (SZ) findet. Darin spiegelt sich die unterschiedliche Wahrnehmung der Wirklichkeit unserer Gesellschaft. Dabei beschreibt Günter de Bruyn nur, wie Menschen in Deutschland seit den 1930er Jahren an ihren politischen Hoffnungen scheitern. Schon der Nationalsozialismus war in gewisser Weise eine Fortschritts- und Jugendideologie, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass vielfach gerade Konservative – zu denen auch Bonhoeffer gehörte – weder den Nazis noch den Kommunisten auf den Leim gingen. In der DDR war man staatlich verordnet »progressiv«, was aber zu einer geradezu bleiernen Lähmung der Gesellschaft führte. Parallel dazu scheiterte im Westen zwar die 68er-Generation auch am Aufbau des Sozialismus, aber im Meinungskampf mit den Konservativen entstand eine sehr lebenswerte Gesellschaftsform. Die jedoch scheint nun nicht mehr zu genügen, wieder wird die progressive Umwertung alter Werte gefordert. Nimmt es da Wunder, wenn sich die schon länger Lebenden die Augen reiben und neuerliches Scheitern befürchten? Den »neuen Menschen«, den alle gesellschaftspolitischen Ideologien der letzten hundert Jahre schaffen wollten und wollen, gibt es nicht. Menschen bleiben Menschen, im Guten wie im Schlechten. Wir sollten diese Einsicht endlich ernstnehmen und uns damit bescheiden, jeweils immer das Gute zu befördern, anstatt das Beste schaffen zu wollen.

Annette Weidhas (Leipzig)

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