Buch des Monats: März 2018

Ed. by Martin Wallraff, Silvana Seidel Menchi u. Kaspar von Greyerz.

Basel 1516: Erasmus’ Edition of the New Testament.

Tübingen: Mohr Siebeck 2016 = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation / Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation, 91. XIX, 319 S. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-155274-8.

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Da die Feierlichkeiten zu »Wittenberg 1517« glücklich hinter uns liegen, lohnt es, noch einmal auf »Basel 1516« zurückzublicken. Für Theologen im Allgemeinen und Bibelwissenschaftler im Besonderen sind beide Jahreszahlen mit Epoche machenden Ereignissen verbunden. Während das Wittenberger Jubiläum inzwischen wohl ausreichend präsent sein dürfte, verdient das Basler noch ein wenig mehr Aufmerksamkeit. Dazu regt der federführend von dem Kirchenhistoriker Martin Wallraff herausgegebene Sammelband an (vgl. die ausführliche Rezension von Markus Wriedt in ThLZ 141, 2016, 1237–1239). Die Studienausgabe aus dem Jahr 2017 dürfte den Leserkreis des Bandes erweitern.
Im Mittelpunkt der fünfzehn zum Teil recht ausführlichen Beiträge, die auf eine Fachtagung in Basel im Jahr 2014 zurückgehen, steht das Novum Instrumentum des Erasmus von Rotterdam, die Druckausgabe des griechischen Neuen Testaments, die der Kleriker und europäische Universalgelehrte zusammen mit einer eigenen lateinischen Übersetzung sowie zahlreichen Annotationes Anfang März 1516 bei Jakob Froben in Basel herausbrachte. Dass Luther seiner deutschen Übersetzung des Neuen Testaments auf der Wartburg eine der folgenden Ausgaben des Novum Instrumentum zugrunde legte, nämlich die 2. Auflage von 1519, sei nur am Rande erwähnt.
In den historischen, theologischen und kirchenpolitischen Entstehungskontexten dieser zweisprachigen Druckausgabe des Neuen Testaments war zunächst weniger der griechische Text das Sensationelle als vielmehr die lateinische Übersetzung des Erasmus, trat sie doch in Konkurrenz zu der seit der Spätantike maßgeblichen Vulgata des Hieronymus, die auch noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts, zusammen mit den Vorreden des Kirchenvaters, die autoritative Basis für jegliche Beschäftigung mit der Bibel bildete. Bis heute umstritten ist, ob die spätere Auskunft des Erasmus, er habe ursprünglich gar keine eigene lateinische Version veröffentlichen wollen und sei erst im letzten Moment vor Erscheinen des Novum Instrumentum von Freunden dazu gedrängt worden, der Wahrheit entspricht oder eine Schutzbehauptung darstellt. Jedenfalls hatte Erasmus bestimmt nicht intendiert, seinen griechischen NT-Text im theologischen oder gar kirchlichen Gebrauch an die Stelle der Vulgata zu setzen. Gleichwohl war jeder Leser nunmehr durch die Ausgabe des Erasmus in die Lage versetzt und zumindest implizit dazu angeregt, durch Vergleich des lateinischen Textes mit der griechischen Vorlage unter Zuhilfenahme der Annotationes sich ein eigenes Urteil über den Wortlaut des Neuen Testaments zu bilden.
Über die Qualität des griechischen Textes, den Erasmus drucken ließ, sind sich alle Textkritiker heute einig: Er ist äußerst mangelhaft und häufig der Fassung der Vulgata unterlegen, schlicht, weil diese aus wesentlich besseren Vorlagen als den griechischen Handschriften, die Erasmus zur Verfügung standen, erstellt worden war. Hinzu kommt, dass Erasmus den Idealen seiner Zeit folgend der Überzeugung war, dass an vielen Stellen das nach humanistischen Maßstäben unbeholfene Latein der Vulgata unmöglich der Sprache der Apostel gerecht werde. Dementsprechend »korrigierte« er die Vulgata in seiner lateinischen Version und ebenso seinen griechischen Text gelegentlich auch ohne handschriftliche Vorlage.
Was das Novum Instrumentum und damit auch den vorliegenden Sammelband so interessant macht, sind also vor allem die geistigen und kirchlichen Lebenszusammenhänge zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in die uns beide führen. Sie werden überaus plastisch, detailreich und zugleich hilfreich orientierend vor Augen geführt, etwa der sogenannte »Bibelhumanismus« durch Erika Rummel, der Textcharakter der von Erasmus verwendeten griechischen Handschriften durch Andrew J. Brown, sein Zugang zu ihnen sowie ihre Vorgeschichte und ihre graphische Gestaltung durch Patrick Andrist, die Annotationen des Erasmus im Zusammenhang seiner Bibelauslegung durch Mierske van Poll-van de Lisdonk oder die Produktion und Verbreitung des Novum Instrumentum auf dem europäischen Buchmarkt durch Valentina Sebastiani.
Eindrucksvoll und durch zahlreiche Abbildungen besonders anschaulich ist der Beitrag von Martin Wallraff zu den sogenannten »Paratexten« zur Bibel, also Beigaben wie z. B. Widmungen, Vorreden, methodische und inhaltliche Einführungen oder Nachworte (subscriptiones). Insbesondere widmet sich Wallraff den aus der spätantiken und byzantinischen Überlieferung in die Druckausgabe übernommenen Texten zu Schriften bzw. Teilen des Neuen Testaments und stellt sie exemplarisch vor, darunter der einzige solcher »Paratexte«, der sich bis in die heutigen Textausgaben des Neuen Testaments retten konnte: die Kanontafeln des Euseb von Cäsarea. Im Hintergrund werden hier schon Konturen eines im Aufbau befindlichen groß angelegten Forschungsprojekts zu den biblischen Paratexten erkennbar, das wissenschaftliches Neuland zu erschließen verspricht.
Die Bibel, so erfahren wir aus diesem Band mit Blick auf die frühe Neuzeit, begegnet nie als »nacktes« Buch. Sie ist immer Teil lebendiger Kommunikation, Gegenstand der Interaktion zwischen Gelehrten und Künstlern, Verlegern und Käufern, Lesern und Hörern, höchst gebildeten Theologen und schlichten Gottesdienstbesuchern. Die Bibel war und ist immer mehr als ein Text. Sie ist Teil lebendiger Überlieferung und kann gerade und nur darin ihr Eigenes, Einzigartiges bewahren und zur Geltung bringen. Das können wir, vor wie nach 2017, gerade von Erasmus lernen.

Karl-Wilhelm Niebuhr (Leipzig/Jena)

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