Buch des Monats: März 2016

Kundnani, Hans

The Paradox of German Power

London: Hurst Publishers 2014. 176 S. Geb. £ 17,99. ISBN 978-1-84904-415-8

Buch bestellen

Keine Geringeren als Anthony Giddens und Heinrich August Winkler sparen nicht mit Lob für ein Werk des Journalisten und Politikwissenschaftlers Hans Kundnani, der vor seinem Wechsel zum German Marshall Fund über fünf Jahre als Forschungsdirektor beim European Council on Foreign Relations tätig war. Die deutsche Fassung des Buches ist im Frühjahrsprogramm 2016 bei C.H.Beck angekündigt.
Bei dieser Ausgangslage fragt es sich, was zu dieser frühen wie intensiven Euphorie geführt haben mag. Die Antwort lautet wie bei vielen guten wie provozierenden Büchern, dass sie darum gut sind und provozieren, weil sie so richtige wie scheinbar ganz einfache Fragen stellen und sogar zu beantworten wagen.
Kundnanis Frage lautet: Gibt es eine „neue Deutsche Frage“? Und: Wie ist es historisch einzuordnen, wenn Deutschland einerseits als neuer Hegemon erscheint und gleichzeitig Angela Merkel während der Eurokrise in europäischen Hauptstädten als neue Diktatorin karikiert wird, während andererseits Deutschland militärisch wie machtpolitisch kaum den von ihm erwarteten Beitrag in Europa und weltweit leisten kann oder will – wohl aber seinen ökonomischen mit allen unerwünschten Nebenwirkungen für seine Nachbarn.
Es ist kein Zufall, dass Kundnani bei der Entwicklung seines Arguments ausführlich auf den bereits genannten Heinrich August Winkler und dessen Werk „Der lange Weg nach Westen“ Bezug nimmt. Denn Kundnani baut in seiner These genau dort auf, wo Winkler seinen 2. Band abgeschlossen hat: beim annus mirabilis 1989/90. In seinem Buch setzt sich auch Winkler kritisch mit der These vom „Deutschen Sonderweg“ auseinander, wonach sich die Entwicklung der deutschen Demokratie grundsätzlich von der seiner europäischen Nachbarn unterscheide. Winkler spricht in seinen Titel vom „langen Weg“, weil sich nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und den diametral unterschiedlichen Erfahrungen in zwei deutschen Staaten erst nach 1990 behaupten lasse, dass das wiedervereinigte Deutschland als Nation nach all seinen Irrungen im 20. Jahrhundert erst jetzt in der vermeintlichen Wertegemeinschaft des Westens und Europas angekommen sei.
Eben daran anknüpfend benennt Kundnani in seinem Werk das scheinbare Paradoxon, dass der ökonomische Riese Deutschland gerade aufgrund der historischen Erfahrungen seit 1945 sich erfolgreich und persistent weigert, politische Führung in Europa auszuüben, und sich stattdessen auf Grundlage seines ökonomischen Erfolges in sich selbst zurückzieht. Die geopolitische „Deutsche Frage“ des 20. Jahrhunderts sei nun zu einer geoökonomischen „Deutschen Frage“ geworden. So betont Kundnani, dass die Eurokrise ein Deutschland offenbart habe, das zwar stark genug ist, seinen Nachbarn den eigenen Willen aufzuzwingen, aber zu schwach, da unwillig oder unfähig, um Europa politisch zu gestalten oder seinen Nachbarn effektiv zu helfen. Das so unter deutscher Semi-Hegemonie entstandene Europa erscheint darum weniger deutsch als vor allem chaotisch.
Hier hat sich aus Sicht des Autors eine Zeitenwende ereignet: Die Westbindung über NATO und EU sowie die defensive Bundeswehr wurden zum nationalen Credo. Das Erodieren dieser Entwicklungen vor allem im neuen Jahrtausend führe inzwischen allerdings dazu, dass Deutschland die Früchte der Hegemonie, wirtschaftlichen und politischen Einfluss, genießen wollte und will, ohne den Konsens im Bereich Werte und politischer Interessen in Europa führend zu befördern. Doch ohne diese könne eine Europäische Union nicht existieren.
Die Stärke des 2014 verfassten Buches liegt in der Tatsache, dass seine Kernthese den aktuellen Entwicklungen standzuhalten scheint. So geht Deutschland in der Flüchtlingskrise einen weiteren riskanten „Deutschen Sonderweg“ – und ähnlich wie bei der Eurokrise gelinge es Deutschland nicht, seine europäischen Partner auf diesen Weg mitzunehmen. Damit drohe das wiedervereinigte Deutschland in Europa entweder zum Spalter – und damit zur Gefahr für das Weiterbestehen der Europäischen Union – zu werden oder in der Starre des trägen Semi-Hegemons zu verharren. Oder es wird zu dem, was Kundnani als ein Schaf im Wolfspelz illustriert. Äußerlich mit Einfluss und vor allem mit ökonomischen Machtmitteln ausgestattet, nutze Deutschland seine neue Rolle mit neun Nachbarn im Herzen Europas jedenfalls nicht, um im europäischen Interesse zu gestalten. Während man Deutschland früher für die Größe und Zeitspanne seiner Pläne und Visionen fürchtete, fürchtet man es heute für die Abwesenheit derselben.
Wenn dies zusammengefasst das Analyseergebnis Kundnanis ist, ist es auch nicht mehr schwer zu erkennen, was seinen publizistischen Erfolg begründet. „The Paradox of German Power“ ist quasi der dritte Teil von Winklers „langem Weg nach Westen.“ Nur zeichnen sich Fortsetzungen gemeinhin dadurch aus, dass auch ihr Ende offen ist.

Nils Ole Oermann (Lüneburg)

Weitere Bücher