Buch des Monats: Juni 2020

Ulrich H. J. Körtner

Ökumenische Kirchenkunde.

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 392 S. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-05285-1.

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Für den theologischen Bereich der Konfessionskunde und Ökumenik ist von gar nicht zu überschätzender Bedeutung, dass Ulrich H. J. Körtner die hier angezeigte ›Ökumenische Kirchenkunde‹ für die Reihe ›Lehrwerk Evangelische Theologie‹ der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig geschrieben hat. Das Buch macht in und durch diese Reihe auf neue Weise deutlich, dass Konfessionskunde und Ökumenik aus der theologischen Ausbildung im 21. Jahrhundert nicht wegzudenken sind. Das gilt auch und gerade angesichts der Tatsache, dass die globale Ökumenische Bewegung, die sich im frühen 20. Jahrhundert formierte, heute zumindest auf institutioneller Ebene an Bedeutung zu verlieren droht. Denn: »Grundlegende Kenntnisse der verschiedenen christlichen Kirchen und Konfessionsfamilien sind nicht nur für das Theologiestudium, sondern auch für das religionswissenschaftliche Studium des Christentums unabdingbar.« (XI) Körtners Ökumenische Kirchenkunde knüpft an den, wenn man so will, »ökumenischen Turn« der Konfessionskunde an, den diese im späten 18. Jahrhundert entstandene Disziplin im 20. Jahrhundert im Kontext der Ökumenischen Bewegung genommen hat. Denn in der Ökumenischen Bewegung wurde bald erkannt, dass die vergleichende Betrachtung der Konfessionen in ihrer Lehre und Praxis eine unerlässliche Voraussetzung ökumenischer Verständigung und Zusammenarbeit ist. Im Unterschied zu den verschiedenen Ansätzen einer ökumenischen Kirchenkunde bei Peter Meinold, Friedrich Heyer und Erwin Fahlbusch vertritt Körtner die These, dass das Programm einer ökumenischen Kirchenkunde um die Frage nach dem Verhältnis der Kirchen zum Judentum erweitert werden müsse (vgl. 12). Denn ökumenisch könne der Sachverhalt nicht ausgeblendet werden, dass für die Kirchen mit der Trennung zwischen Juden und Christen die Universalität des Heilsglaubens angefochten werde. Wenngleich das ökumenische Ziel einer sichtbaren Einheit gerade mit Blick auf das Verhältnis von Juden und Christen nur »als eschatologische Hoffnung oder Verheißung zu verstehen« (15) sei, könne das Programm einer ökumenischen Kirchenkunde nur im Rekurs auf diese Frage weiterentwickelt werden. Körtner schlägt nicht zuletzt mit Blick auf dieses Zentralthema ein differenztheoretisches Modell der Ökumene vor. Zugleich betont er mit Recht, dass aus der »Einbeziehung des Verhältnisses von Kirche und Judentum« nicht notwendig eine Erweiterung der Ökumenik »in die Richtung eines allgemeinen Dialogs der Religionen folge« (15). Gleichwohl behandelt er aber die Entwicklung des Dialoges im Zusammenhang der Frage nach Rolle von Mission (vgl. 319ff).
Die ökumenische Kirchenkunde ist nach Körtner von ökumenischer Theologie im Sinne einer systematischen Theorie der Ökumene und den in ihr zu bearbeitenden verbundenen dogmatischen und ethischen Fragestellungen zu unterscheiden, wenn auch nicht gänzlich zu trennen. Sie arbeitet an der Schnittstelle von Kirchengeschichte, Systematischer Theologie und Praktischer Theologie und zielt auf eine Theorie der Ökumene, die aus der Einzeldarstellung der Kirchen und Konfessionsfamilien erhoben wird. Dabei geht es nicht um Vollständigkeit, die unerreichbar wäre. Körtner behandelt in fünf Kapiteln die orthodoxen Kirchen, die altorientalischen Kirchen, die katholischen Kirchen (römisch-katholische Kirche und altkatholische Kirchen der Utrechter Union), die protestantischen Kirchen, das pfingstlich-charismatische Christentum und christliche Sondergemeinschaften. Zum Komplex der protestantischen Kirchen rechnet er dabei nicht nur evangelisch-lutherische, reformierte und unierte Kirchen sowie Waldenser, Mennoniten, die Brüder-Unität, die Baptisten, methodistische Kirchen, die Heilsarmee und den Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland, sondern auch die anglikanische Kirchengemeinschaft (vgl. Kapitel 6.9). Dass der Anglikanismus dem Protestantismus zugerechnet wird, mag man mit Blick auf die historische Genese und den weit überwiegenden Teil der kirchlichen Lehre einleuchtend finden, deckt sich aber nicht mit der Selbstpräsentation der anglikanischen Kirchengemeinschaft in der Ökumenischen Bewegung. Insofern ist gerade diese Zuordnung ein Beispiel für die Bedeutung von Körtners – sicher auch den Rahmenbedingungen der Lehrwerkreihe geschuldeten – Entscheidung, die ökumenische Kirchenkunde nicht in Gestalt einer Sammlung von Selbstdarstellungen zu präsentieren, wie dies z. B. Friedrich Heyer gemacht hatte. Gerade in dem Mut zur Fremddarstellung aus der Sicht eines evangelischen Theologen liegt aber ein Gewinn in der aktuellen Situation des Fachs. Körtners Kirchenkunde befördert den interkonfessionellen Austausch, weil sich die Leserinnen und Leser an den Darstellungen reiben können und werden. Solche Reibung ist produktiv und belebt das Interesse an konfessionellen Unterschieden und Profilen und den Diskurs in neuer Weise. In solchem Diskurs realisiert sich auf theologischer Ebene die Konfessionalität, die nach Körtner zum Christentum bereits bei Paulus greifbar gehört (vgl. 34). Sie wurzelt in dem konfessorischen Charakter des Glaubens an Christus als der Wahrheit in Person und den durch unterschiedliche Erfahrungen und Sozialisationen konditionierten Interpretationen (vgl. 16 und 20), die in verschiedenen Kirchen und Konfessionsfamilien soziale Gestalt annehmen. Was den Versuch einer Typisierung der christlichen Gemeinschaften anbetrifft, so stellt Körtner zwar die zentralen unterschiedlichen Einteilungsschemata dar, ohne aber eine Synthese anzustreben. Vielmehr sei eine multidisziplinär arbeitende ökumenische Kirchenkunde »gut beraten, die unterschiedlichen Sichtweisen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen aufeinander zu beziehen, um ein möglichst reichhaltiges und komplexes Bild der Christentümer und Kirchen zu gewinnen.« (48)
In diesem Bild ist die moderne Ökumenische Bewegung selbst ein Faktor, dem Körtner das Schlusskapitel widmet. Hier werden die Geschichte der Ökumenischen Bewegung, ihre Organisationsformen und die in ihr hervorgetretenen und diskutierten Einheitsmodelle bündig dargestellt. Der zentralen Adressatengruppe des Lehrwerks evangelische Theologie werden dabei nicht zuletzt die entscheidenden evangelischen Akteure wie insbesondere die Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa und damit verbunden die ökumenische Zielvorstellung der Einheit in versöhnter Verschiedenheit nahegebracht. Dieses Modell basiert auf der Einsicht, dass zwar Trennung und Ausschluss zwischen Kirchen sündentheologisch zu reflektieren sind und die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses gefährden, dass aber »die konfessionelle und die kontextuelle Pluralität der geglaubten einen Kirche Jesu Christi [...] ihren Grund keineswegs nur in der menschlichen Sünde, sondern auch in der schöpfungsgemäßen anthropologischen und soziokulturellen Vielfalt hat« (343). Entsprechend sei auch »die Formel von der versöhnten Verschiedenheit nur, wenn sie nicht statisch, sondern dynamisch verstanden wird« (343), vertretbar. Grundlegend ist dabei die Einsicht, dass die ökumenische Arbeit nicht von der Hoffnung auf die sichtbare Einheit der irdischen Kirche, sondern von der Hoffnung auf das Reich Gottes lebe. Denn: »Nicht um die Einheit der Kirche, sondern um das Kommen des Reiches Gottes wird im Vaterunser gebetet. Die sichtbare Einheit der Kirche(n), was auch immer darunter verstanden werden mag, ist jedenfalls keine Vorbedingung für das Kommen des Reiches Gottes.« (343) Diese Einsicht wird in ökumenischen Dialogen zwar inzwischen gerne und oft gemeinsam festgehalten, aber ob die Konsequenzen für das Verständnis der gegebenen konfessionellen Vielfalt schon gemeinsam verstanden werden, kann man fragen.
Körtners Lehrbuch bietet eine ökumenisch-theologisch fundierte Darstellung der Kirchen und Konfessionsfamilien auf dem aktuellen Stand der Forschung und des ökumenischen Gesprächs. Dies geschieht in einer gut lesbaren und griffigen Sprache. Leserinnen und Leser erhalten in allen Kapiteln Angaben zu weiterführender Literatur. Ein Personen- und ein Sachregister helfen, das Lehrwerk auch zum Nachschlagen zu verwenden. Ein solches Buch hat gefehlt und wird nicht nur im Studienbetrieb, sondern auch in allen anderen Bereichen ökumenischer Arbeit hervorragende Dienste leisten.

Friederike Nüssel (Heidelberg)

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