Buch des Monats: September 2014

Michael Domsgen, Dirk Evers

Herausforderung Konfessionslosigkeit. Theologie im säkularen Kontext

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 242 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-03294-5.

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Dieser Band ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert und zur Lektüre über die Disziplingrenzen der Theologie hinweg zu empfehlen: Als Gemeinschaftsprojekt der Theologischen Fakultät in Halle/S. präsentiert er Evangelische Theologie als eine in sich differenzierte, durch die gemeinsame Arbeit an einem Thema aber kohärente Wissenschaft. Damit stellt er ein Gegengewicht zu den wissenschaftsorganisatorisch geförderten Spezialisierungsprozessen dar, die gegenwärtig die Einheit der Theologie aufzulösen drohen. Dazu widmet er sich einem Thema, dessen Aktualität unbestreitbar ist und das ebenso weitreichende Implikationen für Kultur und Gesellschaft wie kirchliche Praxis enthält: der Konfessionslosigkeit.
Der praktisch-theologisch interessierte Religionspädagoge Michael Domsgen stimmt prägnant in einem vorzüglichen einleitenden Beitrag auf die Untiefen, aber auch die Unverzichtbarkeit des Begriffs der Konfessionslosigkeit ein: „Annäherungen über einen Leitbegriff in Ermangelung eines besseren“ (11–27). Er schließt dann auch den Band mit nachdenklichen Überlegungen und Hinweisen zur religiösen Kommunikation in Ostdeutschland ab: „Mission impossibile?“ (233–244)
Dazwischen versammeln sich Beiträge der anderen theologischen Fächer, wobei die Systematische Theologie mit vier Beiträgen am breitesten auftritt. Neben bekannten religionssoziologischen Analysen (Luhmann; Luckmann; Wohlrab-Sahr u. ä.) werden hier zum einen Perspektiven aus der dogmatischen Tradition eingespielt, z. B. die reformatorische Unterscheidung von ecclesia visbilis und invisibilis (Dirk Evers) oder das Schleiermachersche Religionsverständnis sowie die Rendtorffsche Christentumstheorie (Jörg Dierken). Zum anderen finden sich im Zuge des iconic (bzw. pictorial) turn der Versuch einer Umstellung traditioneller Lehrstücke wie die Schrift- und Rechtfertigungslehre (Malte Dominik Krüger) oder in geistreicher Aufnahme von Hermann Timms Theologie der „Zwischenfälle“ eine Analyse der „Religion im konfessionslosen Alltag“ (Marianne Schröter/Christian Senkel).
Deutlichere Anregungen für die praktische Frage nach dem Umgang mit der Konfessionslosigkeit geben die beiden exegetischen Beiträge. Ernst-Joachim Waschke legt in souveränem Umgang mit verzweigten Einzeldiskussionen das erste Gebot aus und hebt nachdrücklich dessen Bedeutung für die Menschenwürde hervor. Udo Schnelle erweitert den kirchentheoretischen Blick durch eine eindrückliche Rekonstruktion des „Hauses“ in neutestamentlicher Zeit. Dabei arbeitet er „Offenheit, Liebesethik, Kommunikation, Anspruch und Exklusivität“ (92) als die entscheidenden Merkmale der Attraktivität dieser frühchristlichen Gemeindeform heraus.
Kirchenhistorisch macht Jörg Ulrich auf die geringe Bedeutung des zahlenmäßigen Wachstums für das Selbstverständnis der Christen im zweiten Jahrhundert aufmerksam – und auf die Veränderung dieser Position mit zunehmendem Machtgewinn der Kirche. Eine kritische Anfrage an die kirchlich verbreitete Überschätzung der Statistik! In die Gegenwart führt dann Friedemann Stengel in einem detailreichen Beitrag zur Kirche in der DDR, wo er ein problematisches Verhältnis zwischen „Selbstsorge“ der Kirche und ihrem „Verkündigungsdienst“ (z. B. 145) aufdeckt.
Schließlich plädiert Daniel Cyranka aus missionswissenschaftlicher Perspektive entschieden für eine Kontextualität der Theologie, die mit dem Zuhören und dem Ernstnehmen der Nachbarn beginnt (230).
Entsprechend dem Tätigkeitsort der Autoren und Autorinnen stehen häufig Fragen der ostdeutschen Situation im Vordergrund, aber immer wieder wird der Horizont historisch und empirisch geweitet. Konfessionslosigkeit breitet sich nicht nur in (Ost-)Deutschland aus. Vor allem aber demonstriert der Band eindrücklich, wie perspektivenreich Evangelische Theologie Gegenwart analysieren und zu ihrem Verständnis beitragen kann, wenn ihre Disziplinen sich gemeinsam auf ein Thema konzentrieren. Dass daraus auch wichtige Einsichten für die kirchliche Praxis entspringen, zeigt, dass hier Theologen bei ihrer Sache sind.

Christian Grethlein (Münster)

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