Buch des Monats: Mai 2019

Hartmut Leppin

Die frühen Christen. Von den Anfängen bis Konstantin

München: C. H. Beck Verlag 2018. 512 S. m. 21 Abb. = Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung. Lw. EUR 29,95. ISBN 978-3-406-72510-4

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Der Neutestamentler greift mit besonderem Interesse zu dem neuen Buch des renommierten Althistorikers Hartmut Leppin (Leibniz-Preisträger 2015, Monographien u. a. zu Thukydides, Theodosius dem Großen, Justinian und dem christlichen Kaisertum in der Spätantike), erwartet er doch von einer Darstellung aus seiner Feder zu den »frühen Christen« Aufschluss darüber, wie das ihm vertraute Arbeitsfeld des Neuen Testaments gewissermaßen »von außen und hinten« erschlossen wird. Dass dieses Feld dem Neutestamentler gar nicht zu Eigen ist, vielmehr gleichzeitig von vielen begangen, man kann auch sagen: abgeerntet werden kann, ist geradezu banal. Dass allerdings die auf diesem Feld geernteten Früchte einen durchaus anderen Geschmack annehmen können, sind sie durch die Hände des Althistorikers gegangen, lehrt die Lektüre dieses Bandes.
Genug der Metapher. Der Titelbegriff »frühe Christen« ist natürlich mit Bedacht gewählt, gerade auch wegen seiner Unbestimmtheit. Was ist schon früh und wer waren »die Christen«, zumal wenn nach ihren Anfängen gefragt wird – wenigstens das Ende der Darstellung mit Konstantin ist klar markiert. Neutestamentler nehmen aber auch zunehmend zur Kenntnis und ernst, dass man in historischer Perspektive wenigstens mit Blick auf das 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung besser nicht von Christen sprechen sollte, jedenfalls nicht ohne zumindest mit gedachte Anführungszeichen, und schon gar nicht als Gegenüber zu »den Juden« und »den Heiden« (auch von den »Juden-« und »Heidenchristen« sollten wir uns wohl besser langsam verabschieden). Die mit solchen Begriffsverwendungen und ‑verwandlungen verbundenen sachlichen und historischen Problemkonstellationen bilden den Hintergrund für einen der vier Hauptteile des Buches: »I. Weder Juden noch Heiden?« (33–133). Auch die drei folgenden haben jeweils eher Problemkonstellationen zum Gegenstand als Zeiträume oder Regionen: »II. Christliche Autoritäten« (135–253), »III. (Nicht) von dieser Welt: Selbstsorge und Nächstenliebe« (255–344), »IV. Bürger zweier Reiche« (345–414).
Zu jedem der vier Hauptteile werden jeweils eine ganze Reihe von konkreten Ereignissen, Entwicklungen oder Verhaltensweisen aufgegriffen, die dann grob gesehen chronologisch entfaltet werden, beginnend meist mit Einzelbefunden aus neutestamentlichen Schriften, dann aber ohne eindeutige Epochenmarkierungen übergehend zu Quellen aus dem zweiten und dritten Jahrhundert und gelegentlich auch wieder zurück. Wir haben also keine fortlaufende »Geschichte des frühen Christentums« oder gar »des Urchristentums« vor uns, wie sie in jüngster Zeit noch von Dietrich-Alex Koch, Udo Schnelle oder Markus Öhler verfasst worden sind, sondern eher einen strukturierten Einblick in die Welt der Christen während der ersten drei formativen Jahrhunderte ihrer Religionsgemeinschaft. Dass zu dieser Welt nicht zuletzt religiöse Überzeugungen und Praktiken gehörten, die schließlich in eine neue Weltreligion einmündeten, welche sich dezidiert von dem unterschied, was seither »Judentum« zu nennen ist, kommt dabei nicht zu kurz, sondern, ganz im Gegenteil, sehr prägnant zur Sprache. Ja, es ist ein ausdrückliches Anliegen des Historikers. Als Leseanweisung gibt er seinem Publikum mit auf den Weg: »So schnöde manches wirkt, was antike Christen taten; dem Gedanken, dass es eigentlich um Gott gehe, konnten sie sich nicht völlig entziehen. Er sollte daher ernst genommen werden, von gläubigen Lesern wie von ungläubigen.« (31)
Wie nicht anders zu erwarten, aber doch eben für Theologen auch besonders hilfreich, wird auf jeder Seite deutlich, dass das frühe Christentum nur im und aus dem Kontext antiker Religionsgeschichte sachgemäß zu verstehen ist. Aber über diese an eine Binsenweisheit grenzende Einsicht hinaus werden eben auch auf jeder Seite und bei jedem im einzelnen erwähnten Brauch, Gedanken, Konflikt, Verhalten, Ritus, Amt, Gebäude, Nahrungsmittel, Liebeswerk, Mord und Totschlag usw. die jeweils konkreten Bezüge zu antiker Kultur, Religion, Philosophie, Sozialstruktur, politischen Konstellation usw. vor Augen geführt, und das ist dem durchschnittlichen Neutestamentler und wohl auch für die Kollegen der übrigen theologischen Disziplinen in der Regel eben nicht so unmittelbar gegenwärtig. Es versteht sich, dass bei einem solchen Ansatz neben den bekannteren literarischen Zeugnissen die z.T. sehr viel schlechter überlieferten und jedenfalls sehr viel weniger bekannten epigraphischen, papyrologischen oder ikonographischen Quellen sowie die außerhalb des später kanonisch werdenden Stroms der Überlieferung stehenden Texte besonderes Gewicht erhalten (der Autor spricht etwa gern von Texten des »gnostischen Spektrums« und zieht in breitem Umfang Texte aus dem Nag Hammadi-Fund heran).
Bezeichnender Weise geht der erste Hauptteil zur spezifischen Identität der »frühen Christen« nicht von Grundzügen ihres Glaubensbekenntnisses oder theologischen Reflexionen zur Heilsbedeutung ihrer Verkündigung aus, sondern von Riten und Festen, Speisen oder Räumen. Hinzu kommen Wunder und Dämonen, nicht zu vergessen die Begräbnisstätten. Im Kapitel zu den Autoritäten ist – natürlich – auch von Bischöfen, Propheten, Diakonen, Presbytern sowie den unterschiedlichsten Typen von »Charismatikern« die Rede, aber darüber hinaus mit besonderem Nachdruck von Intellektuellen oder so genannten »religiösen freelancern« und von den Konflikten, die sich immer wieder zwischen verschiedenen Persönlichkeiten mit solcherlei Ansprüchen ergaben. Sexualität und Ehe, Kinder und Sklaven bilden den Ausgangspunkt, um im dritten Hauptteil das Sozialverhalten der »frühen Christen« profiliert darzustellen. Die politischen Konstellationen, denen sie ausgesetzt waren, werden im vierten Teil mit Blick auf das Imperium wie auf den einfachen Soldatenstand, das Martyrium und den Aufstieg in die soziale Elite erfasst. Bei all dem kommen die theologischen Konflikte und Entwicklungen keineswegs zu kurz, ohne dass eine »dogmengeschichtliche« Gesamtdarstellung angestrebt würde. Immer wieder wird aber sichtbar, dass solche theologischen Konflikte sich so, wie sie in den Quellen überliefert sind, nur in einem antiken religiösen, kulturellen und geistigen Milieu entfalten konnten und dass sie erst aus dieser unlösbaren Verquickung heraus überhaupt sachgemäß verstanden werden können.
Nicht nur von der leider immer noch gängigen Gegenüberstellung von »Heiden« – »Juden« – »Christen« löst sich die Darstellung von Hartmut Leppin, sondern ebenso von traditionellen Begriffspaaren wie »kanonisch« gegenüber »apokryph«, Charisma gegenüber Amt, Gnosis gegenüber Großkirche oder ähnlichen. Natürlich ist das inzwischen Standard innerhalb der historisch arbeitenden Disziplinen der akademischen Theologie. Aber für die ist das Buch ja gar nicht in erster Linie geschrieben. Vielmehr wendet es sich entsprechend dem Profil des Verlags und der Reihe »Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung« an einen Leserkreis, dem »grundlegende Erkenntnisse aus dem Bereich der Historischen Geisteswissenschaften« nahegebracht werden sollen (Vorsatzblatt). Welcher Theologe wollte sich nicht zu diesem Kreis rechnen?

Karl-Wilhelm Niebuhr, Jena

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