Buch des Monats: Juni 2019

Kirn, Hans-Martin, u. Adolf Martin Ritter

Geschichte des Christentums IV.2. Pietismus und Aufklärung.

Stuttgart: W. Kohlhammer 2019. 373 S. = Theologische Wissenschaft. Sammelwerk für Studium und Beruf, 8.2. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-033678-0.

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Der kirchenhistorische Lehrbuchbestand ist um ein bedeutendes Exemplar reicher geworden: Dieser jüngst erschienene Band fasst in souveräner Kennerschaft die Christentumsgeschichte des langen 18. Jahrhunderts tiefenscharf in den Blick. Er gliedert sich in drei selbstständige Hauptteile, die jeweils eine klare, orientierungsstarke Disposition aufweisen, und bietet ausführliche Register der verhandelten Orte, Personen und Sachen.
Der erste, von Hans-Martin Kirn verfasste Teil widmet sich der frühneuzeitlichen religiösen Erneuerungsbewegung des Pietismus. Nach einer profunden Darlegung einschlägiger Strukturelemente macht er die Leserschaft in herkömmlicher, weithin prosopographisch orientierter Darstellung mit den wichtigsten Formationen vertraut, von den bei Philipp Jakob Spener verorteten Anfängen über den durch August Hermann Francke inaugurierten Hallischen Pietismus, die von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf geprägte Herrnhuter Brüdergemeine und die württembergischen Regionalformen bis hin zum reformierten und radikal-separatistischen Pietismus, um schließlich noch einen Brückenschlag zu den Anfängen Friedrich Schleiermachers, der sich selbst nicht ohne Grund als einen »Herrnhuter höherer Ordnung« bezeichnet hat, anzudeuten. Die Darstellung versteht es eindrucksvoll, intime Stoffbeherrschung in verständliche, basale, leicht rezipierbare Darbietung zu überführen, dabei durchweg den aktuellen Forschungsstand einzuspielen und gegenüber allen polemischen Grabenkämpfen, welche die ältere Pietismusforschung bisweilen auszufechten beliebte, wohltuend vornehme Neutralität walten zu lassen.
Der zweite, ebenfalls von Kirn verantwortete Teil wendet sich sodann der Aufklärung zu. Die treffliche Art und Weise, in der diese als »europäische Bildungs- und Reformbewegung« (126) charakterisiert wird, zerstreut sogleich den flüchtigen Ersteindruck, als würden »Pietismus« und »Aufklärung« im Sinne zweier ebenbürtiger, jeweils hermetisch abgeriegelter Lebens- und Denkformen nebeneinandergestellt. Vielmehr gelingt es der Darstellung durchweg überzeugend, die sektorale Vitalität des Pietismus in den strukturellen Gesamtrahmen der Aufklärungsepoche einzuordnen. Nach einem formalen Zugriff auf ihre spezifischen Trägerschichten, Kommunikationsmedien und Organisationstypen präsentiert Kirn die Aufklärungsbewegung als ein gesamteuropäisches Phänomen, rekonstruiert sodann profilscharf deren philosophische Grundierung, um daraufhin ihre jeweilige manifeste bildungs- und kulturreformerische Ausprägung in Protestantismus, Katholizismus und Judentum zu skizzieren. Dass unter diesen drei Religionsfamilien der Protestantismus, bei dem, analog zur Pietismusdarstellung, den Leitgestalten etwas mehr Gewicht hätte beigelegt werden können (so steht, exempli causa, der Berliner Propst Johann Joachim Spalding seinem dortigen Amtsvorgänger Spener an breitenwirksamer, auch außertheologisch virulent gewordener Einflussnahme doch keinesfalls nach) die mit Abstand breiteste Aufmerksamkeit findet, entspringt nicht etwa der konfessionellen Beheimatung des Vf.s, sondern allein dem historischen Tatbestand, dass sich dort die erste, religionskulturell am weitesten ausgreifende Konkretion der religiösen Aufklärung Bahn gebrochen hat und, damit verbunden, die entscheidenden, dann auch den Katholizismus und die jüdische Haskala befruchtenden Initiationsimpulse der neuzeitlichen Umformung des Christlichen freigesetzt worden sind.
Als exquisite Besonderheit des Bandes bietet der von Adolf Martin Ritter verfasste dritte Teil eine konzise Übersicht zu den orthodoxen Kirchen im 17. und 18. Jahrhundert. Dieses magistrale Kapitel, das über die byzantinisch-orthodoxen Kirchen, die von Byzanz getrennten Nationalkirchen sowie die mit Rom unierten Ostkirchen in eindrucksvoller, kompakter Sachhaltigkeit orientiert, rückt ein wesentliches, im Kontext der deutschen bzw. mitteleuropäischen Kirchengeschichtswahrnehmung zumeist sträflich vernachlässigtes Faktenfeld ins Bewusstsein. Vielleicht hätte man den etwas einengenden Untertitel des Bandes dahingehend erweitern oder modifizieren können, dass die orthodoxen Kirchen zwar keine als pietistisch oder aufklärerisch anzusprechenden Formationen hervorgebracht haben, jedoch ihrerseits ein integrales Moment der frühneuzeitlichen Christentumsgeschichte darstellen, die ohne eine zureichende Berücksichtigung jener Kirchen auf eine torsohaft fragmentierte Schrumpfgestalt reduziert wäre.
Dem Band möge, was er eindrücklich darstellt, auch selbst beschieden sein: eine sich vielgestaltig ausformende, wesentliche Innovationspotentiale freisetzende, nachhaltig wirkmächtig werdende Geschichte.

Albrecht Beutel (Münster/Westf.)

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