Buch des Monats: November 2012

Schwöbel, Christoph

Die Religion des Zauberers. Theologisches in den großen Romanen Thomas Manns.

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. 288 S. 17,8 x 11,2 cm. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-16-148743-9.

Dieses Büchlein von Christoph Schwöbel bietet kluge und interessante Analysen der theologischen Bezüge und Motive im Werk von Thomas Mann, die seit ihrem Erscheinen vor einigen Jahren nichts von ihrer anregenden Kraft verloren haben. Deshalb – und aus Respekt vor Thomas Mann selbst – soll das Bändchen in diesem Rahmen in Erinnerung gebracht und neu herausgestellt werden.
Entstanden sind die Essays im Zusammenhang mit Seminaren, die Schwöbel gemeinsam mit dem Leiter des Buddenbrookhauses und dem Direktor der Kulturstiftung Hansestadt Lübeck Hans Wißkirchen gehalten hat und in denen Manns Romane aus literaturwissenschaftlicher und theologischer Perspektive interpretiert werden. Von Wißkirchen stammt dann auch das Vorwort, in dem er hoch anerkennt, wie Schwöbel »die ständige Präsenz und ästhetische Kraft der religiösen Zeichen« in ihrer Bedeutung für Thomas Manns Werk aufzeigt (XI). Schwöbels Generalthese dabei ist, dass die Bedeutung der religiösen Zeichen bei Mann immer mehr zunimmt: »Das religiöse Zeichensystem beginnt seine Karriere in seinem Werk als ironisches Zitat, wird immer mehr in den Haupttext hineingenommen, bis es im Erwählten das alle anderen Zeichensysteme integrierende und relativierende Zeichensystem wird.« (173) Entsprechend ist das Buch aufgebaut. Nach einer Einleitung und einem längeren ersten Kapitel zu »Thomas Mann und die religiöse Frage« folgen Kapitel zu den Buddenbrooks (II.), dem Zauberberg (III.), den Josephs-Romanen (IV.) und dem Doktor Faustus (V.). Ein sechstes Kapitel befasst sich mit »Theologie im Zitat bei Thomas Mann«. Dazu gibt es auch schon im fünften Kapitel einen Abschnitt. Aber die dann und wann auftretenden inhaltlichen Überschneidungen sind nicht störend, sondern befördern eher das Verständnis, indem sie die Dinge noch einmal aus anderer Perspektive darstellen oder ergänzen – so auch an diesem Punkt, wo immer wieder Manns sog. Montageprinzip erläutert wird.
Jeder, der ein wenig Thomas Manns Werk kennt, weiß, dass er sich intensiv mit den Wissenschaftsbereichen auseinandergesetzt hat, die für seine Romane wichtig sind – also mit Ökonomie, Medizin, Biologie, Philosophie, Ägyptologie, Theologie, Musikwissenschaft, Geschichts- und Politikwissenschaft. Mann stand in regem Gedankenaustausch mit hervorragenden Vertretern dieser Fächer und übernahm manchmal deren Erläuterungen und Hinweise recht weitgehend in seine Romane oder nutzte Textausschnitte von Autoren, auf die er hingewiesen wurde oder selbst gestoßen war. Dort aber, in einen fremden Kontext gestellt, als beispielsweise parodierendes oder archaisierendes Stilmittel genutzt und einer bestimmten Erzählabsicht des Autors dienend, verändert sich deren Bedeutung. Im Doktor Faustus werden »die von Mann z. T. anhand von Tillichs Anregungen geschaffenen Sprachgestalten« zu »Signaturen des Dämonischen in der Romanhandlung« (242). Doch es bleibt nicht dabei, dass religiöse Motive vorrangig für die »Atmosphäre« zuständig sind, sie werden von Werk zu Werk auch inhaltsbestimmender. »Gegenüber dem Monismus des bösen Todes im Zauberberg und dem Monotheismus des Ganzen in den Josephsromanen wird hier [bei Doktor Faustus] in der „Negativität des Religiösen“ das Paradoxon der Gnade zur Pointe des Wirlichkeitsverständnisses des Romans. Allein unter der Voraussetzung dieses Paradoxes [...] lässt sich Leverkühns eigene Behauptung wagen „alles ist und geschieht in Gott, besonders auch der Abfall von ihm“.« (269/270)
Dieser Endpunkt des Doktor Faustus gilt Schwöbel als Anfangspunkt des Erwählten, des Alterswerkes von Thomas Mann, das nur ein Thema kennt: Gnade. Schwöbel zeigt, wie alle theologischen Elemente des Erwählten im Doktor Faustus »schon auf die eine oder andere Art angesprochen« werden, vor allem das Thema der Reue. Theologie in Gestalt einer alles umfassenden Gnade ist jetzt die einzige Dimension, »in die alle anderen Aspekte integriert« werden (270). Das trifft es vollkommen, ein wenig schade ist nur, dass dem Erwählten insgesamt nur ein paar Seiten gewidmet sind. Im Vergleich zu den »großen Romanen« ist Der Erwählte kurz (255 Taschenbuchseiten) und zudem nach meiner Beobachtung weniger bekannt als die anderen. Trotzdem gäbe er ebenso wie seine Vorgänger einen sehr interessanten Seminarstoff ab – für sich selbst und eben als Bündelung Mannscher Motive überhaupt.
Es würde den Rahmen sprengen, hier Manns Geschichte von doppeltem Inzest, allerhärtester Reue und dem wundersamen unbeabsichtigten Aufstieg zum Papst des aus einer Geschwisterliebe hervorgegangenen Jungen, der später unwissentlich seine Mutter liebte und mit ihr zwei Töchter zeugte, nachzuerzählen. Wer das Buch nicht kennt, der sollte es lesen. Hier wird nicht nur (enthellenisierend bzw. verchristlichend) der »Ödipus« gnadenvoll gewendet – mit geradezu märchenhaftem Happy End, sondern auch eines von Manns Grundmustern aufgenommen, wie es besonders stark im Joseph auftaucht: die Janusköpfigkeit äußerlicher gnadenhafter Bevorzugung. Wie Joseph seine schöne Gestalt und Klugheit erst einmal zum Verhängnis wird, weil er Hochmut aus ihr zieht, begeht das Geschwisterpaar im Erwählten Inzest, weil es sonst niemanden findet, der ihm an »feiner Art« gleich ist. In beiden Fällen beginnt die wahre Gnade erst, wo der Stolz endet. Das heißt aber natürlich nicht, dass äußerliche Begnadung Thomas Mann als verwerflich gilt: Joseph behält seine schöne Gestalt und der Erwählte bekommt sie nach vollbrachter Reue zurück. Aber das partiell Weltliche und damit Bedingte muss umgriffen werden vom Unbedingten, das freilich in der Welt nur im Bedingten aufscheinen kann. Schwöbel fasst seine Analysen zu Thomas Mann so zusammen: »Neben der Beziehung von Unbedingtem und Bedingtem ist es das Verhältnis von Aktivität und Passivität, das im religiösen Zeichensystem erfasst wird. Es bringt zum Ausdruck, was Menschen tun können und was ihnen nur widerfahren kann. Beide Fragen werden – schließlich – im Hinweis auf die unbedingte Gnade beantwortet.« (273) Stilmittel dafür ist wieder eine altertümlich kolorierte Sprache, die aber nicht mehr ironisch ist, sondern oft humorvoll, manchmal begütigend, vor allem aber gütig. Und so lässt er auf der letzten Seite des Romans seinen Papst Gregorius – seiner Reue eingedenk – sagen: »Aber klug ist es freilich, im Sünder den Erwählten zu ahnen, und klug ist das auch für den Sünder selbst. Denn würdigen mag ihn die Ahnung seiner Erwähltheit und ihm die Sündhaftigkeit fruchtbar machen, so dass sie ihn zu hohen Flügen trägt.«

Annette Weidhas (Leipzig)

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