Buch des Monats: März 2019

Kirchhof, Paul

Beherzte Freiheit.

Freiburg i. Br.: Herder 2018. 368 S. Geb. EUR 26,00. ISBN 978-3-451-38178-2.

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Der emeritierte Heidelberger Steuerrechtler und ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof wagt in diesem Band etwas, was eher pathologisch geschulten Juristen ungewöhnlich erscheinen mag: Er verwendet den juristisch definierten und verfassungsrechtlich belegten Freiheitsbegriff und füllt ihn mit eigenen, persönlichen Attributen.
Von »echter Freiheit«, ja von »beherzter Freiheit« ist da die Rede, weil der Autor im Sinne eines abgewandelten Böckenförde-Diktums der Meinung zu sein scheint, dass Freiheit in einer »übervollen Gesellschaft« dann in Gefahr ist, wenn sie nicht mehr »verantwortet« und damit immer wieder neu erkämpft werden will. Wie das geschehen kann, dazu liefert der Verfassungsrichter einen ganz eigenen, originellen Entwurf: Nach einer einführenden Lesehilfe in das, was der Autor im Titel als »beherzte Freiheit« bezeichnet (18–22), referiert und entwickelt er zunächst in einem ausführlichen Kapitel die Geschichte der Freiheitsidee im Verfassungsstaat. Er kommt dabei zu für die Zunft durchaus unkonventionellen Schlüssen: Wenn Kirchhof vom »Mut zur Freiheit« (101) und dem Wagnis des »Freiheitsvertrauens« (96) spricht, dann klingt dort der Politiker heraus, der Kirchhof einmal werden wollte. Und doch gelingt ihm in diesem Buch etwas, was Politikern gerade im Umgang mit Begriffen zuweilen äußerst schwerfällt, Juristen jedoch gemeinhin leicht, weil es ihr täglich Brot ist.
Der präzise Umgang mit nur scheinbar allzu klaren Begriffen, selbst wenn sie auf den ersten Blick wolkig erscheinen mögen. So greift der Autor die klassische Trias von »Freiheit-Gleichheit-Sicherheit« (115 ff.) genauso wie einen Exkurs im Naturrecht (165 ff.) auf, um mit Blick auf den Freiheitsbegriff und dessen »beherzte« Ausgestaltung ein altes englisches Sprichwort zu bestätigen, welches lautet: »You can’t have your cake and eat it.«
Will heißen: Freiheit ist ein Investivgut, was nur derjenige sichern kann und wird, der bereit ist, notfalls sehr viel in den Erhalt dieser Freiheit zu investieren. Genau deshalb sieht Kirchhof auch in dem Fall der Berliner Mauer den für Deutschland alles entscheidenden Wendepunkt, weil diejenigen, die Freiheit wollten, dafür andere Rechtsgüter bis hin zu ihrem Leben und Wohlergehen ihrer Familien zu riskieren bereit waren.
Das gelingt nur dem, der sich den »Quellen der Freiheit« von Erziehung über Werte bis hin zur Kultur und der eigenen Geschichte immer wieder selbst zu versichern vermag. Freiheit will in diesem Sinne qualifiziert werden, und das gelingt am Ende nur dem ehrlich nach Freiheit strebenden und vor allem ihren Wert erkennenden Individuum. Und hier liegt der Anlass dieses Buches: Kirchhof diagnostiziert, dass sich der westlich, liberale Mensch der Moderne in entgrenzten, digital-globalen Zusammenhängen immer schwerer damit tut, sich zur Freiheit zu qualifizieren und ihren Verlust etwa in totalitären Regimen darum meist erst dann bemerkt, wenn es bereits zu spät ist. Kirchhofs Replik darauf:
Bildung von Persönlichkeiten in Elternhaus, Schule und Studium sowie vor allem die Ersetzung des »Ich-Maßstabs« durch den »Wir-Maßstab« (250), um über individuelle Freiheitserfahrungen Gemeinwohl zu stiften. Wie schwierig und gleichzeitig lohnend das gerade in einer digitalen Gesellschaft werden wird, analysiert der Autor in seinem überzeugenden Abschlusskapitel »Neue Freiheitsräume in einer technisch veränderten Welt« (293–316).
Einzige Schwäche des Autors in diesem lesenswerten Buch scheint die Breite seines politisch zuweilen arg breit geratenen Pinsels. Seine enorme Stärke ist jedoch eben diese Breite, die vermittelt, dass nur ein immer wieder neu wie präzise wie aktuell gefüllter Freiheitsbegriff dem Individuum dabei helfen kann, das zu sichern, wessen er schneller verlustig gehen kann, als mancher denkt: der eigenen Freiheit.

Nils Ole Hermann (Lüneburg)

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