Buch des Monats: November 2015

Schiffers, Juliane

Passivität denken. Aristoteles – Leibniz – Heidegger

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Karl Alber 2014. 356 S. = Alber Thesen, 57. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-495-48650-4.

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Die in diesem Buch entfaltete These war zu erwarten, auch wenn nicht zu erwarten war, dass sie so elegant und bedenkenswert durchgeführt würde. Seit einiger Zeit schon hat sich das Themenfeld der Passivität zu einer zentralen Herausforderung gegenwärtiger Philosophie und Theologie entwickelt. Die überkommenen Dualismen von Logos und Ethos, Denken und Handeln, Theorie und Praxis sind nachdrücklich um die Dimension des Pathos, der Leidenschaften, des Leidens, der Gefühle und des Fühlens erweitert und damit als fragwürdige Übervereinfachungen aufgedeckt worden. Damit ergeben sich nicht nur neue Zugänge zur Beschreibung menschlichen Lebens, sondern es stellt sich auch die Aufgabe, die Beziehungsfelder zwischen diesen verschiedenen Zugängen neu zu vermessen, also zu zeigen, wie sich unser Verstehen des Denkens, Handelns oder Leidens ändern muss, wenn wir es aus dem angedeuteten Netzwerk von Bezügen heraus zu begreifen suchen. In ihrer 2012 am Institut für Philosophie der Freuen Universität Berlin angenommenen Dissertation unternimmt es Juliane Schiffers, das an einer zentralen Frage zu untersuchen: der Aufgabe, Passivität zu denken. Darunter versteht sie die Bemühung, „bestimmte Erfahrungen von Passivität für die Seinsweise des Menschen ernst zu nehmen“ (9). Sie steckt das Feld also sehr weit ab und subsumiert darunter nicht nur die vielfältigen Schwierigkeitserfahrungen im Leben, an denen wir auf Grenzen unseres Vermögens stoßen, sondern auch Grenzerfahrungen der menschlichen Existenzweise als solcher. Was wirklich ist, obgleich es auch nicht sein könnte, lebt von einer Ermöglichung, über die es selbst nicht verfügt. Was heißt es, das zu denken?

Schiffers Antwort ist nicht neu. Zum einen sei „Passivität aus einer bloßen Opposition zu Aktivität zu lösen“ (11) und grundsätzlicher anzusetzen: In ihrer starken Form liegt sie jeder Entgegensetzung von Aktivität und Passivität voraus, ist also beidem gegenüber ein Drittes und nicht nur ein relativ Anderes der Aktivität. Das könnte man freilich ganz entsprechend auch von Aktivität sagen, wenn man diese als jeder relativen Entgegensetzung von Aktivität und Passivität vorausliegende Ermöglichungsbedingung dieser Entgegensetzung auffassen würde. Schiffers verfolgt nicht diese Möglichkeit, sondern die Priorität der Passivität, weil sie – das ist das andere – die ganze Fragestellung als einen „Beitrag zur Metaphysik des Geistes“ konzipiert, den sie als „Oberbegriff für spezifisch menschliche Aktivitäten wie Wahrnehmen, Fühlen, Erfahren, Denken und Handeln“ versteht (11). Vom Menschen und insbesondere vom menschlichen Geist aus betrachtet sei Passivität das grundlegendere Phänomen: „Menschliche Aktivität ... ist nicht nur kontingenterweise verbunden mit Erfahrungen der Passivität, sondern sie ist in ihrer Konstitution wesentlich darauf angewiesen“. (11) Die Kontingenz der eigenen Aktivität ist durch eine Möglichkeit bedingt, die sich nicht dieser Aktivität verdanken kann, so dass diese Kontingenz nicht gedacht werden kann, ohne Passivität als Ermöglichungsbedingung seines eigenen Denkens zu denken. „Passivität ist ein wesentliches Moment des Denkens des Denkens endlicher Wesen das im Unterschied zum Denken des Denkens eines unendlichen Wesens niemals reine Aktivität sein kann.“ (12)

Doch dass das Denken endlicher Wesen keine reine Aktivität sein kann, sagt noch nicht, dass deshalb Passivität grundlegender ist als Aktivität. Das bedarf der Begründung, und die versucht Schiffer in einem großangelegten Gedankengang in drei Schritten vorzulegen. In einem ersten Hauptteil („Potenzen des Passiven – Aristoteles“: 39-140) bemüht sie sich, im Anschluss an Aristoteles zu zeigen, dass geistige Akte eine Passivität voraussetzen, die sie ermöglichen und ohne die sie nicht wirklich werden könnten: Passivität ist das, was geistige Akte möglich macht. In einem zweiten Hauptteil („Die Passivität des Subjekts – Leibniz“: 141-221) wird in Auseinandersetzung mit Leibniz gezeigt, dass und wie das in bestimmten geistigen Akten auch erfahren werden kann. So wird Passivität bei Leibniz „als Verhältnisbestimmung zu den unverfügbaren Fundamenten des bewussten Denkens subjektphilosophisch und epistemologisch ausbuchstabiert“ (31), also nicht ohne Bezug auf, „aber nicht nur als Wirkung von Aktivität gedacht“ (13). In einem dritten Hauptteil („Selbstreflexivität via passiva – Heidegger“: 223-323) werden die beiden Gedankenlinien zusammengeführt und gezeigt, „dass die beiden Momente der Ermöglichung und der Erfahrung letztlich in einem grundlegenden Verhältnis zu einander stehen, mit dem geistige Aktivität allererst verständlich wird“ (32). Dass diese Verschränkung ein Drittes braucht, in dem und durch das sie vollzogen wird, wird durchaus gesehen. Der darin angelegten Möglichkeit einer gegenläufigen Argumentation, die nicht auf Passivität, sondern auf letzte Aktivität setzt, versucht Schiffers aber durch zwei Schritte zu entkommen. Zum einen benennt sie das Ich als den Ort, an dem sich diese Verschränkungserfahrung vollzieht, zum anderen konzipiert sie dieses Ich als „Leerstelle“, das nicht über sich hinaus auf etwas verweist, was es selbst und die Möglichkeit seiner Erfahrungen von Jenseits seiner selbst her begründet, sondern das „selbst in seinem Kern die Ermöglichungsbedingung“ für diese Grunderfahrung bereithält (29). Die „Passivität des Daseins“ bei Heidegger (234-256) wird dementsprechend als „Haltung“ gekennzeichnet, in der man sich als „Urgrund, der man selbst ist“ (302) begreift. Das wird anhand von Heideggers Gewissens- (301-315) und Gelassenheitsanalyse (315-321) entfaltet und mündet in die These, dass die „Potentialität als Seinsweise des Daseins selbst“ eine Haltung darstelle, „die ein Seinkönnen im Modus der Passivität ist und die einzig mögliche Weise, selbstreflexiv zu existieren“ (323). Ein Résumé, das den Gedankengang zusammenfasst (325-344), sowie ein Literaturverzeichnis (345-356) schließen das Buch ab.

Die eigentliche Stärke des Buches ist nicht die vorgetragene These, sondern das, was in Auseinandersetzung mit Aristoteles, Leibniz und Heidegger zu ihrer Begründung detailliert entfaltet wird. In diesen Teilen gibt es vieles, was treffend, erhellend und lesenswert ist und in der weiteren Diskussion zu berücksichtigen sein wird. Die Hauptthese dagegen, dass Passivität grundlegender anzusetzen sei als die Opposition von Passivität und Aktivität, wird man kaum originell nennen können, und sie wird nur mit Mühe und etwas einseitiger Kritik gegen Entwürfe wie die von Philipp Stoellger, Dieter Mersch, Paul Ricoeur oder Bernhard Waldenfels profiliert. Ein Mangel ist, dass die für das Thema zentralen Debatten um Hegels Konzept einer Aktivität und Passivität dynamisch einschließenden Aktivität oder um die radikal auf Passivität setzende Phänomenologie von Jean-Luc Marion nicht berücksichtigt werden. Dadurch gewinnt Heidegger ein Gewicht, das nicht durch eine gerade an dieser Stelle überaus nötige Kritik Heideggers noch einmal überprüft wird. Heidegger ist nicht der klarste Denker der Kontingenz und Endlichkeit des Menschen. Dass die theologischen Traditionen, die in der Entfaltung der menschlichen Selbsterfahrung eher für eine erste Aktivität als eine letzte Passivität plädieren oder zwischen beidem keinen Gegensatz aufkommen lassen wollen, weitgehend ausgeblendet bleiben, verwundert unter diesen Umständen nicht. Aber auch wenn diese theologischen Versuche manchmal über das Ziel hinausschießen mögen, so sind sie doch nicht ohne Argumente, die für die Frage nach der Möglichkeit, Passivität zu denken, nicht zu ignorieren sind. Gerade wenn man mit der Verfasserin der Überzeugung ist, dass Passivität eine Fundamentalstruktur menschlichen Seins und Denkens ist, darf die Alternativmöglichkeit einer fundamentalen Aktivität, die aus der begrifflichen Opposition zur Passivität gelöst ist und den Spannungsgegensatz von Aktivität und Passivität überhaupt erst begründet, nicht nur beiläufig behandelt werden.

IU Dalferth

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