Buch des Monats: Juni 2014

Ibn Isḥāq

Das Leben des Propheten. Aus dem Arabischen von Gernot Rotter.

5. Aufl. Nikosia: Spohr 2014. 320 S. Geb. m. Lesebändchen. EUR 22,50. ISBN 978-9963-40-022-5.

Die erste Neuauflage nach dem Tod des Übersetzers ist der Anlass, an dieser Stelle ein Buch vorzustellen, das für Kenner seit Jahrzehnten ein unverzichtbares Arbeitsmittel ist, das ein Jahrgang meiner Studierenden gerade neu für sich entdeckt und das sicherlich auch vielen Lesenden dieser Zeitschrift noch unbekannt ist. Die klassische Biographie des Propheten Muhammad, deren arabisches Original im 8. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung zusammengestellt wurde, ist erstmals 1976 von dem Islamwissenschaftler Gernot Rotter (1941–2010) in deutscher Übersetzung vorgelegt worden.
Durch das wachsende Interesse deutschsprachiger Muslime ist die Nachfrage nach diesem Band bisher immer größer gewesen als das Angebot – zwischen einzelnen Auflagen entstanden Lücken von mehreren Jahren, in denen nicht einmal mehr antiquarisch Exemplare erhältlich waren. Mit der Auflage von 1999 ist das Werk in die Betreuung des deutschen muslimischen Verlegers Salīm Spohr übergegangen. Die Typographie wurde dabei gründlich überarbeitet, die Seiten großzügiger gestaltet, die zuvor von Hand angefertigten Überschriften in arabischer Schrift durch eine professionelle arabische Drucktype ersetzt und die lateinische Umschrift arabischer Namen auf ein neues System umgestellt. Dabei fiel die Wahl auf das im englischsprachigen Raum verbreitete Umschriftsystem, das zwar den Nachteil hat, dass nicht immer genau ein lateinischer Buchstabe einem arabischen Buchstaben entspricht, das dafür aber – auch vom Deutschen aus – wesentlich intuitiver lesbar ist. An der fünften Auflage 2014 wird die Internationalisierung des Buchmarkts erkennbar: Verlagsort ist nun Nikosia, und das Buch wurde in Ungarn gedruckt.
Das Werk von Ibn Isḥāq war ursprünglich als eine Universalgeschichte aus der Perspektive der noch jungen islamischen Zivilisation angelegt. Das Geschichtswerk als Ganzes ist verloren; der Teil zur Lebensgeschichte des Propheten Muhammad jedoch ist erhalten geblieben durch vollständige und wörtliche Zitation bei einem Autor des 9. Jahrhunderts n. Chr., Ibn Hishām. Die Übersetzung von Gernot Rotter bearbeitet etwa die Hälfte des bei Ibn Hishām überlieferten Textbestandes. Durch die Auslassung von langen Listen, Wiederholungen in der Erzählung und Kommentierungen ist ein Text entstanden, der sich auch für interessierte nichtmuslimische Lesende gut dafür eignet, von Anfang bis Ende durchgelesen zu werden, ohne dass dabei die Geduld zu sehr strapaziert wird.
Die Überlieferungen über das Leben des Propheten, für die Ibn Isḥāq der geschichtlich bedeutsamste Sammler geworden ist, haben eine kaum zu überschätzende Bedeutung für das Selbstverständnis der muslimischen Glaubensgemeinschaft. Dies ist dadurch bedingt, dass der Koran selbst keinerlei Erzählungen aus der Epoche seiner „Herabsendung“ enthält, dass ihm nur sehr spärlich überhaupt Angaben über die Person des ihn empfangenden Propheten zu entnehmen sind und dass der Anordnung der Suren und Verse im Koran kein chronologisches Prinzip zugrunde liegt. Diesbezüglich unterscheidet sich der Koran grundlegend beispielsweise von den Büchern der Evangelien, in denen die Wortverkündigung in einen Erzählablauf eingewoben ist und dadurch ihre Anlässe und ihre Reihenfolge erhält. Zum Koran tritt eine solche Erzählung in der islamischen Überlieferung erst von außen hinzu, die es erlaubt, sich ein Bild von den Ereignissen zu machen, in deren Verlauf sich die Verkündigung des Koran für Muslime zu verstehen gibt.
Wer sich als Nichtmuslim halbwegs zutreffend einen Eindruck davon verschaffen will, was Muslime im Koran lesen, ist mit einer deutschen Übersetzung des Koran nur unvollständig bedient. Als Verstehenshorizont ist mindestens noch eine Kenntnis der islamischen Überlieferung zur Biographie des Propheten Muhammad erforderlich, die hier nun wieder bis auf Weiteres im Buchhandel erhältlich ist.

Andreas Feldtkeller (Berlin)

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