Buch des Monats: November 2011

Tenorth, Heinz-Elmar [Hrsg]

Geschichte der Universität Unter den Linden 1810-2010. Bd. 6: Selbstbehauptung einer Vision.

Berlin: Akademie Verlag 2010. 764 S. m. 25 Abb. 18,9 x 24,8 cm. Geb. EUR [D] 128,00. ISBN 9783050046716.

Unter dem leicht irritierenden Titel »Selbstbehauptung einer Vision« liegt nun der sechste Band einer großen Geschichte der Humboldt-Universität vor, die zu ihrem zweihundertjährigen Jubiläum erscheinen sollte, aber bisher erst zur Hälfte vorliegt – nämlich in Gestalt von drei Bänden, die unter der Überschrift »Praxis ihrer Disziplinen« die Geschichte der Universität anhand der Geschichte ihrer klassischen Fachgebiete erzählen. Nimmt man den Titel des Bandes strikt wörtlich, mag er angehen: Auch vor 1989 behaupteten viele, die »wahrhaft humanistischen« Traditionen der Humboldt-Brüder fortzusetzen. Die analytische Kraft des Bandes lässt immer wieder einmal zu wünschen übrig – beispielsweise dann, wenn eine »Übersicht über die Leitungsstruktur der Humboldt-Universität« auf dem Stand von 1984 abgedruckt wird, die aus einer vom damaligen Rektor Klein verantworteten Veröffentlichung zum letzten Jubiläum 1985 stammt und auf der die eigene SED-Kreisparteileitung der Hochschule ebenso wie andere für das Bildungswesen der DDR charakteristische Doppelstrukturen einfach fehlen.
Natürlich gibt es lichtvolle Ausnahmen im Band. Dazu zählt die Geschichte der Theologischen Fakultät von 1945 bis 2010 aus der Feder von Wolf Krötke. Eine Ausnahme ist Krötkes Beitrag schon deswegen, weil er kombiniert, was oft nicht zusammengeht: ein klares theologisches Urteil und sehr solide Arbeit an den Quellen. Im Unterschied zu manchem anderen Autor des Bandes hat er nicht nur die (1989 von den Betroffenen teilweise gereinigten) Universitätsakten, sondern auch die Überlieferung im Bundesarchiv und in der Stasi-Unterlagenbehörde geprüft. Natürlich erscheinen bei so präziser Aufarbeitung der Quellen viele Personen in einem Licht, das schnelle oder abschließende Urteile schwierig macht: 1953 exekutierte der Prorektor und Chemiker Robert Havemann noch brav die Forderungen der DDR-Regierung (beispielsweise gegenüber unbotmäßigen Theologiestudierenden); das änderte sich bekanntlich seit den sechziger Jahren. Das eindrückliche Gesicht des Systematikers Heinrich Vogel schmückt als eine von zwei Abbildungen den Beginn des Beitrags. Vogels Kraft zu politischer Diagnose beurteilt Krötke aber durchaus kritisch, wenn er über die berühmte Auseinandersetzung zwischen dem Professor und seinem Bischof Otto Dibelius, ob man der »Obrigkeit« auch als DDR-Bürger Gehorsam schuldig sei, schreibt: »Leider sind die echten Probleme dieses Streites damals nicht zum Austrag gekommen«. Trotz einer erschreckend großen Zahl an »Inoffiziellen Mitarbeitern« unter Professoren, Mitarbeitenden und Studierenden konnte man, wie Krötke abgewogen bilanziert, »an der Berliner Sektion tatsächlich ordentlich Theologie studieren«. Gleichwohl verschweigt der Autor aber auch nicht, dass das ursprünglich für die ganze Universität wie die Fakultät charakteristische Wissenschaftsverständnis Friedrich Schleiermachers nur am Sprachenkonvikt in der Borsigstraße hochgehalten wurde und auch nur dort die spannungsvolle Einheit von enger Kirchenbezogenheit und voller akademischer Freiheit realisiert werden konnte. Freilich wurden seit dem Staat-Kirche-Gespräch im März 1978 sogar einige gemeinsame Projekte realisiert; einige Veröffentlichungen werden Bestand haben. Bei der zweiten Abbildung des Beitrags, einem Blick in das festliche Auditorium anlässlich der Fusion der ihrerseits bereits mit dem Sprachenkonvikt fusionierten Fakultät mit der West-Berliner Kirchlichen Hochschule im Juni 1993, meint man an den ersten Mienen die mancherlei Schwierigkeiten bei diesen Fusionen noch ablesen zu können. Krötke behandelt auch diese jüngste Vergangenheit zugleich mit Takt und Klarheit; die West-Berliner Einrichtung wie das Ost-Berliner Sprachenkonvikt kommen (vermutlich aus Platzgründen) in seinem Beitrag allerdings eher knapp weg. Seiner vereinigten Fakultät schreibt der Emeritus ins Stammbuch, dass »sie in der ihr eigentümlichen Freiheit, in der sie zugleich der Universität wie der Kirche verpflichtet ist, den Weg zu einer wahrheits- und zeitgemäßen Verantwortung evangelischer Theologie findet«.
Krötke ist ein eindrücklicher Beitrag über ein schwieriges Kapitel einer nicht ganz einfachen Geschichte gelungen. Das Buch insgesamt allerdings ist ein Zeichen dafür, dass es nach wie vor nicht für jeden Autor einfach ist, über solche Schwierigkeiten klar zu schreiben.

Christoph Markschies (Berlin)

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