Buch des Monats: Februar 2019

Heinig, Hans Michael

Säkularer Staat – viele Religionen. Religionspolitische Herausforderungen der Gegenwart.

Hamburg: Kreuz Verlag 2018. 142 S. Geb. EUR 14,00. ISBN 978-3-946905-53-0.

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Sich zu Beginn des neuen Jahres mit Herausforderungen zu beschäftigen, ist eine gute Idee. Die Herausforderung, die Hans Michael Heinig in seinem gut lesbaren Buch behandelt, ist der Wandel von der klassischen Kirchenpolitik der alten Bundesrepublik hin zu einer Religionspolitik in der Gegenwart. Dieser Wandel ist durch veränderte Verhältnisse bedingt: »Die Bindungskräfte der beiden Volkskirchen schwinden, der Islam in seinen vielen Facetten ist dazugekommen, […] der kämpferische Atheismus nimmt zu.« So bilanziert der Autor zu Beginn seines Buches nüchtern die Lage und weist auch gleich auf die unterschiedlichen Sichtweisen verschiedener Gerichte in Europa zur Frage hin, wie in dieser neuen Lage die staatliche Neutralität in Religionsfragen genau zu bestimmen ist. Der bekannteste Streitfall sind natürlich die religiösen Symbole am Arbeitsplatz, neben dem Kopftuch in der Klasse inzwischen auch das Kreuz an der Supermarktkasse. Selbst die Gerichte auf europäischer Ebene votieren hier unterschiedlich, von denen der einzelnen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft einmal ganz zu schweigen.
Das handliche Büchlein, in einem neuen Format mit aktuellen Themen im Kreuz Verlag erschienen, besteht vor allem aus nachgedruckten (Zeitungs-)Artikeln der Jahre 2012 bis 2018. Es überrascht kaum, dass neben kirchlichen Publikationsorten wie den »zeitzeichen« vor allem die nur in einem spezifischen Abonnement zugängliche Beilage »Christ und Welt« der Wochenzeitung »Die Zeit« und die Frankfurter Allgemeine Zeitung Quelle waren; der Versuch einer Vertiefung der religionspolitischen Debatte findet vor allem in solchen Medien statt, die von einem eher bildungsbürgerlichen Publikum zur Kenntnis genommen werden. Die, die solche anspruchsvolle Information nicht zur Kenntnis nehmen, sind bei Heinig vor allem als die im Blick, die vereinfachen: die Fülle gelebter islamischer Religion hierzulande beispielsweise zu dem Islam. Das Stichwort »Islamophobie« fällt. Wie man allerdings solche Menschen mit den gründlichen Informationen des Buches versorgen kann, wenn sie überhaupt noch erreichbar sind (und hoffentlich sind sie erreichbar), wäre allerdings noch einmal gesondert zu diskutieren.
Religionspolitik ist, wie gerade die Diskussionen um eine »Moscheesteuer« in den letzten Tagen des alten Jahres zeigten, ein Feld mit starker Entwicklungsdynamik und entsprechend heftigen Debatten. Heinig plädiert angesichts mancher Aufgeregtheiten im öffentlichen Diskurs für einen religiös-weltanschaulich neutralen Staat, der »religiös unparteiisch« ist, aber offen für die »kulturgeschichtliche Bedeutung der Religion«. Er wirbt für das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes und seine behutsame Weiterentwicklung. Er warnt die christlichen Kirchen, der »altbundesrepublikanischen Mentalität verhaftet« zu bleiben und empfiehlt, religiösen wie weltanschaulichen Pluralismus ernst zu nehmen. Nach Heinig überschätzen die Kirchen den »Homogenitätsbedarf moderner Gesellschaften« (er erläutert: »Wertekonsens«) und bewerten die »Integrationskraft demokratischer Verfahren« tendenziell unter. »Kaum eine Predigt über das Verhältnis von Staat und Kirche kommt ohne das berühmte Böckenförde-Zitat aus.« Das heißt nun freilich für Zwecke eines Zeitungsartikels auch die bunte Vielfalt gelebten kirchlichen Lebens auf die Kirche zurechtstutzen. Beherzigenswert bleibt allerdings der Rat des Autors, doch besser in das Grundgesetz keine »jüdisch-christliche Leitkultur« (mehr) hineinzulesen und für die Gesellschaft zu fordern. Für die Wahrheit der christlichen Sicht muss man anders argumentieren.
Eine Art Nebenthema des Buches sind gelegentlich auch bewusst polemische Bemerkungen zu den evangelischen Kirchen und einzelnen evangelischen Institutionen wie der Diakonie und dem Kirchentag. Auch für die, die einzelnen Wertungen und Tendenzen nicht zustimmen, ist die Lektüre Gewinn. Ein Kommentar allerdings scheint doch notwendig: Heinig übernimmt die aus der Münchener evangelischen systematischen Theologie stammende Figur vom »Demokratiedefizit«, das Trutz Rendtorff und andere in evangelischer Theologie wie Kirche der Nachkriegszeit in Theorie wie Praxis beobachten wollten und an manchen Stellen auch eindeutig nachgewiesen haben. Damit diese Diagnose nicht vollkommen schief gerät, muss man aber vielleicht doch darauf hinweisen, dass die Synoden der Landeskirchen gerade in den wenig demokratischen Verhältnissen im Osten vor 1989 oft die einzigen demokratischen Institutionen waren und insofern gerade ein kirchliches Gegenmodell zum allgemeinen Demokratiedefizit der Gesellschaft geboten wurde. Das hat in einem unvergesslichen Wortwechsel in den frühen 1990er Jahren einmal der aus dem Westen stammende Kirchenhistoriker Joachim Mehlhausen aus Tübingen seinem im Osten sozialisierten Kollegen Kurt Nowak aus Leipzig entgegengehalten und damit doch vermutlich Recht gehabt.
Im Buch finden sich viele präzise Beschreibungen gegenwärtiger Konfliktlagen des Religionsrechts. Genauer unter die Lupe genommen werden dabei der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen, die Hochschulen und einzelne politische Parteien. So hat sich Heinig ausführlich mit der Frage beschäftigt, ob Studierende an Universitäten und Hochschulen Gebetsräume zur Verfügung gestellt bekommen sollen oder die Religion gleichsam zur Vermeidung von Konflikten überhaupt aus Bildungseinrichtungen verbannt werden soll – beide Optionen werden bekanntlich von Hochschulleitungen in Deutschland vertreten. Im zweiten Fall bekommt an einigen Einrichtungen dann zwar jede Theatergruppe einen Raum zugewiesen, aber nicht die Evangelische Studierendengemeinde. Der Autor nennt das »leveling down – Egalität durch Laizismus« und charakterisiert die Folgen deutlich: Hier droht auf die Dauer ein Kollateralschaden für das religionsfreundliche Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes. Er warnt die Kirchen davor, in dieser Situation Hierarchisierung von Religion zugunsten der eigenen christlichen vorzunehmen und empfiehlt dem Christentum an diesem Punkt Anschluss an die »starken Gleichheitsideale« der deutschen Gesellschaft. Als Theologe möchte man ergänzen: Eine starke Theorie des guten Zusammenlebens von Menschen verschiedener religiöser und nichtreligiöser Orientierung kann doch gerade innerhalb der christlichen Religion und auf der Basis jüdisch-christlicher Traditionen entwickelt werden. Heinig verschweigt allerdings auch nicht, dass an verschiedenen Punkten eben hierzulande keine Gleichheit besteht: So kennen islamische Gemeinden bekanntlich kein Mitgliedsrecht, das in eindeutiger Weise die Zugehörigkeit zu einer der muslimischen »Konfessionen« dokumentiert. Schließlich darf auch von staatlicher Seite niemand einfach als Angehöriger einer Religion vereinnahmt werden.
Die Stärke des Büchleins liegt in der präzisen Analyse, weniger in neuen Perspektiven für die Lösung altbekannter Probleme oder gar Problemknäuel wie der Integration des Islams in das deutsche Religionsverfassungsrecht. Heinig ist offenbar nicht (wie beispielsweise sein Lehrstuhlvorgänger Axel Freiherr von Campenhausen) der Ansicht, dass die bundesdeutschen Behörden auf einer Anpassung an das hier geltende Mitgliedschaftsrecht und mitgliedschaftliche Nachweise als Folge des Ernstnehmens der Grundrechte bestehen sollten. Gibt es zu dieser Position Alternativen, die keinen massiven Eingriff in das gegenwärtige Rechtssystem erfordern? Spezifische Islam-Verträge wie beispielsweise in Österreich will Heinig nicht. Was aber dann? Aber bevor man neue Wege einschlägt, muss man ja auch erst einmal wissen, wo man steht. Dafür enthält das Buch die notwendigen Informationen.

Christoph Markschies (Berlin)

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