Buch des Monats: Dezember 2016

Hans Zender

Denken hören – Hören denken. Musik als eine Grunderfahrung des Lebens

Verlag Karl Alber Freiburg/München 2016. 160 Seiten, Gebunden, € 20,00. ISBN: 978-3-495-48863-8

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Hans Zender, einer der profiliertesten deutschen Dirigenten, Komponisten und Musiktheoretiker der Gegenwart, feierte im November 2016 seinen 80. Geburtstag. Wenige verstehen es wie er, nicht nur als Künstler und Musiker immer wieder neue Hörerfahrungen zu erschließen, sondern diese als Denker und Schriftsteller auch so zur Sprache zu bringen, dass sich neue Denkerfahrungen einstellen. Durch die konzentrierte Art seines Komponierens und Musizierens zieht er die Zuhörer in den kreativen Prozess des Sinnlichwerdens von Sinn im Prozess des Hörbarwerdens von Musik hinein, und als einer der klarsten Denker unter den heutigen Musikern von Rang, wie Alfred Brendel ihm bescheinigt, gelingt es ihm, das denkend zu Sprache zu bringen, was das sinnliche Geheimnis der Musik ausmacht: dass sie Raum schafft für ein Hören, das denkt, und ein Denken, das hört.
Der Titel seines jüngsten Buches ist programmatisch und setzt das fort, was er in Die Sinne denken (2004) und Waches Hören (2014) begonnen hatte. „Will man die Kunst des Hörens lernen, so muß man den Kopf leeren, das Denken auf Empfang stellen und sich ganz auf das konzentrieren, was man hören will“, schreibt er in der Einleitung. Das klingt einfacher, als es ist. Das Hören steht nicht an der Spitze der kulturellen Tagesordnung. „Die Musik der Moderne mußte die schwere Aufgabe auf sich nehmen, in einer Zeit, die man mit Recht das ‚optische Zeitalter‘ genannt hat, ihre durch die Entwicklung unserer Kultur notwendig komplexen Strukturen hervorzubringen und sie dem durch die Massenkommunikation in den Medien flüchtiger und oberflächlicher gewordenen heutigen Rezeptionsprozess entgegenzusetzen [...] Etwas philosophische Ruhe kann da wohl eine gute Unterstützung sein, um in den Künsten alle Fragen, welche die Menschheit in den Bereichen der Politik wie den Wissenschaften beschäftigen, in symbolischer Form wiederzufinden“ (6–10). Wer in unserer Kultur nicht fremd wirkt, wird künstlerisch nichts Bleibendes schaffen.
Das gilt für Produzenten und Rezipienten in gleicher Weise. Die Kunst des konzentrierten Hörens gelingt nur, wenn wir lernen, immer wieder gegen uns selbst zu hören, uns der von Nietzsche präzis analysierten Neigung zu widersetzen, alles Neue dem Regime des Gewohnten zu unterwerfen. Wohltemperiertes Hören ist eine europäische Gewohnheit, kein Naturgesetz. Auf ganz neue und aufregende Weise klingt Musik, wenn man beginnt, mikrotonal in Schichten zu hören und auf das Mitschwingen der Obertöne zu achten. Hörer brauchen „happy new ears“, wie Hans Zender mit einer glücklichen Metapher John Cages einmal sagte. Diese ‚frohen Ohren‘ muss man sich er-hören. Das braucht Zeit und Ruhe, Wiederholung und Konzentration – sie sind die Schule des Hörens. Nicht das Aufwühlen der Gefühle und Vibrieren der Emotionen in den Beschallungsspektakeln der Eventunkultur. Es sind die Sinne, die denken, wie Hans Zender, Georg Picht folgend, einschärft, und man schadet dem Denken, wenn man die Sinne ruiniert. In der heutigen Lärmwelt muss man seine Sinne schützen und schulen, wenn man Musik hören und verstehen will.
Als Komponist hat Hans Zender in der ihm eigenen Unerbittlichkeit die Konsequenz aus dieser Einsicht gezogen. In seinen Stücken arbeitet er seit Jahren anstatt mit 12 Tönen pro Oktave mit 72 Tönen, d. h. mit Zwölfteltönen statt mit Halbtönen. Die kontrollierte kompositorische Gestaltung dieses mikrotonalen Klangraums fordert die Hörer heraus, ihren konventionellen Subjektivismus zu überwinden und sich auf eine neue Harmonik einzulassen, also mit anderen Ohren zu hören. Zenders Musik ist Ohrenkunst, die gerade in ihrer präzisen Sperrigkeit gegenüber eingeschliffenen Hörgewohnheiten dazu beiträgt, das „geistige Zentrum des Menschen zu entwickeln und in Funktion zu halten“. Seine Überlegungen zu „Musik zwischen Logos und Pathos“ (12–36) bieten eine konzentrierte Einführung in die ausgefeilte Affekttheorie, die dieser Kompositionsweise zugrunde liegt.
Konsequent denkt und komponiert Hans Zender transkulturell, ganz der musikalischen Moderne verpflichtet und doch zugleich in Harmonielehre, Gestaltung freier Formen und Ablösung vom geschlossenen Werkbegriff energisch über sie hinausstrebend, ganz in den konstruktiven Traditionen Europas verankert, und doch zugleich in kreativer Aneignung des Zen-Buddhismus und seiner Erfahrungsweisheit des Loslassens und Geschehenlassens. Seine Inspirationen findet er in der Literatur und bei den Denkern vieler Länder und Zeiten, bei Hesiod, Meister Eckhart, Jean Paul, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und James Joyce, Ezra Pound, Henri Michaux und Ikkyu, Fritz Mauthner, François Jullien, Jean Gebser und Michel Henry, den Texten der Bibel und bei Hölderlin; aber auch in der Malerei der Moderne bei Rothko, Motherwell und Barnett Newman, die er zu den radikalsten Künstlern des 20. Jahrhunderts zählt, weil sie auf die “unmittelbare Konfrontation mit dem Chaos” in der Moderne nicht durch egozentrische Willkür, sondern “durch die ikonische Präsenz der gesammelten geistigen Einheit” geantwortet haben.
Sinnliche und denkende Anleitung zur gesammelten geistigen Präsenz – das ist auch die Pointe seines Komponierens und seines Schreibens. Dass dies für den Komponisten kein Schwelgen in schwerblütigem Tiefsinn meint, zeigen seine Vertonungen von Texten der Surrealisten und Dadaisten, die leicht, klar und verspielt sind. Auch Klassiker wie Schuberts Winterreise oder die Diabelli-Variationen Beethovens bringt er auf neue Weise zu Gehör, indem er für heutige Hörer auslegt, was er bei Schubert oder Beethoven hört. “Komponierte Interpretation” nennt er das. In einem hier abgedruckten Gespräch mit Johannes Picht wird dieses kompositorische Interpretationsverfahren erhellend erläutert und ausgeleuchtet (37–51). Nicht nur als Dirigent, sondern auch als Komponist und als Musikdenker ist Hans Zender ein sensibler Hermeneut der Musik.
Das ist ein verantwortungsvolles Geschäft. Interpreten können ein Werk ruinieren, wenn sie es zum Steinbruch ihres Subjektivismus machen. Sie können ihm aber auch zur Wirkung verhelfen, wenn sie ihm den Respekt entgegenbringen, den es verdient. Hans Zenders Kunst ist von Anfang bis Ende von diesem Respekt geprägt – Respekt gegenüber den großen Werken der Vergangenheit; Respekt gegenüber den Kunstformen anderer Kulturen; Respekt gegenüber Kollegen wie Heinz-Klaus Metzger oder Pierre Boulez, denen er würdigende Nachrufe gewidmet hat (52-55); Respekt gegenüber den Hörern, die zu neuem Hören befähigt und herausgefordert werden. Diesen Respekt bezeugt selbst seine Kompositionstechnik, die hochkontrolliert ist, aber nicht reglementiert, sondern Spielräume schafft, in denen Klang zu Musik werden kann.
Das gilt für seine Vertonung biblischer Texte, für Shir Hashirim, das Lied der Lieder, ganz besonders aber auch für die Logos-Fragmente. Sie geben seine musikalische Antwort auf das Problem der Moderne, dass Ganzheit nicht mehr durch Gesetz und Regel vorgegeben werden kann, sondern durch Freiheit sich selbst erzeugen muss. Fragmente, jedes auf seine Weise ein Ganzes, werden in immer neuen Weisen arrangiert, um ein Ganzes von Ganzen zu bilden. Die in jeder Aufführung neu sich bildende Ganzheit wird von niemandem gesteuert, vielmehr erzeugt die Konsonanz von Sprache und Musik, Text und Harmonie, Rhythmus und Zeitempfinden im Ohr und Geist der Hörer eine Einheit, die im Hörereignis sinnlich erfahrbar wird. Konzentration und Sammlung des Bewusstseins erreicht diese Musik nicht durch von außen gesetzte Regeln, sondern durch die sinnstiftende Einprägung des musikalischen Ereignisses selbst. Nicht wir hören die Musik, sondern die Musik macht uns zu Hörern. Der abschließende Essay dieses Bands ist ein Versuch, den Johannesprolog mit dem Hannya Shingo zu vergleichen (130-158). Er belegt die Sensibilität, in der Zender in den kulturellen Traditionen Europas und Asiens korrespondierende Erfahrungen, Fragen und Einsichten entdeckt und aufspürt.
Das Zentrum des Bandes aber bildet das „Hör- und Denk-Tagebuch“ (56-129), das Auszüge aus Zenders Notizen bietet, die im vergangenen Jahr entstanden sind. Es geht um das Dirigieren als angewandtes Hören, um Musik und Sprache, Kalligraphie und Ritus, die Bedeutung des Hörens für Regisseure, das Unbewusste, die Zeit, den Mythos, die „Wiedergewinnung der Religion“, die „über die Wiedergewinnung des Mythos führen“ müsse (120), und vieles mehr. Stets wird genau gesehen, pointiert gefragt, konstruktiv kommentiert. Das Denken der anderen wird nicht nur herbeizitiert, sondern prüfend aufgenommen und weitergedacht. Und all das ist nur die Spitze des Eisbergs. In über 60 Heften hat Zender seit Beginn seiner künstlerischen Arbeit Einsichten, Reflexionen, Einfälle, Fragen und Beobachtungen aus seiner künstlerischen Arbeit als Komponist, Dirigent und Musikdenker festgehalten. Schon der kleine Ausschnitt, der hier geboten wird, lässt erahnen, mit welcher Intensität und Beharrlichkeit Zender sich mit den künstlerischen und philosophischen, theologischen und religiösen, literarischen und musikalischen Traditionen Europas und Asiens, vor allem Japans, auseinandersetzt. Wer Zenders kompositorisches und musiktheoretisches Arbeiten verstehen will, kann an diesen Texten nicht vorbeigehen. Zender ist ein hoch gebildeter Komponist und Philosoph, Dirigent, Pädagoge und Essayist, dessen wacher Geist und weitgespannte Interessen in immer wieder neuen Anläufen um den einen Punkt kreisen, wie die Moderne davor zu bewahren ist, sich selbst zu Tode zu trivialisieren. Seine Antwort ist, sich nicht postmodern von ihr abzuwenden, sondern sie von ihren kulturellen Wurzeln her neu zu durchdenken und umzugestalten. Geistige Konzentration – das ist die kulturelle Aufgabe, zu der uns Zender durch die allgegenwärtige Musiktrivialisierung und zeitgenössische Unterhaltungskultur herausgefordert sieht. Menschen sollen sich nicht mit dem Stumpfsinn der Massenkultur unserer Zeit zufrieden geben, sondern Selbst-Hörer und Selbst-Denker werden, sich also als Möglichkeitswesen entdecken, die mehr sind und können, als sie ahnen.
Dafür zu sensibilisieren, ist das Ziel von Hans Zenders Komponieren, Denken und Schreiben. Er will ein neues Hören und Denken möglich machen, das nicht abschließt, sondern aufschließt, nicht im Eigenen verharrt, sondern sich durch andere und anderes unterbrechen und herausfordern lässt, nicht dem Kommerz verfällt, sondern den Reichtum der Weltkulturen entdeckt. Wer diesen kleinen Band zur Hand nimmt, wird ihn nicht aus der Hand legen, ohne auf eigene Gedanken gekommen zu sein.

Ingolf U. Dalferth (Claremont)

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