Buch des Monats: Juni 2018

Peter Schäfer

Zwei Götter im Himmel. Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike.

C. H. Beck: München 2017. 200 S. EUR 24.95. ISBN 978-3-406-704123.

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In den theologischen Folgerungen seiner berühmten Studie »Der Sohn Gottes« hatte Martin Hengel 1975 vermerkt, dass es im Umfeld der frühchristlichen Schriften des späteren Neuen Testaments »eine Vielfalt jüdischer Mittler- und Erlöservorstellungen, von Henoch-Metatron über die Weisheit und den Logos bis hin zu Melchisedek-Michael« gab (137). Er zeichnete in dieser bis heute durch ihre synthetische Urteilskraft bestechenden Studie den religionsgeschichtlichen Hintergrund für die von Anfang an erstaunlich vielfältigen Christologien nach, indem er vor allem darauf aufmerksam machte, wie die aus verschiedenen jüdischen Traditionen stammenden »Mittlergestalten [...] von Gott unterschieden und doch aufs Engste mit ihm verbunden« gedacht wurden (ebd.). Zugleich machte er auf die z. B. in rabbinischen Texten sichtbaren Gegenreaktionen jüdischer Theologie auf die christologische Transformation solcher Vorstellungen aufmerksam.
Seit längerer Zeit hat sich eine umgekehrte – nicht allein vom Christentum auf das antike Judentum blickende – Forschungsrichtung zum Gegenstand etabliert. Sie wird von jüdischer Seite in historischen Studien vertreten, unter denen Daniel Boyarins »Border Lines. The Partition of Judaeo-Christianity« (2004) sowie »Two Powers in Heaven« (2004) besonders hervorzuheben sind. Demnach ist die Identitätsbildung von Juden und Christen weder geradlinig noch in plötzlicher Abgrenzung voneinander erfolgt, sondern in längeren Prozessen wechselseitiger Auseinandersetzung.
Mit seinem neuen Buch »Zwei Götter im Himmel« hat jetzt der renommierte Judaist Peter Schäfer im Rahmen der skizzierten Forschungslage eine sehr gut lesbare Darstellung zu antiken jüdischen Gottesvorstellungen vorgelegt: Sie widmet sich der dialogischen Plastizität eines Monotheismus, der überwiegend keine abstrakte Idee gewesen ist, sondern »ein Ideal, das immer wieder angestrebt, aber selten durchgesetzt wurde« (151). Wie sich zeigt, geht es Schäfer, der dafür eigene Fachpublikationen für ein breiteres Publikum aufbereitet, um eine Spurensuche, die den vielleicht etwas zu viel versprechenden Haupttitel auch relativiert: Er zeichnet für das 2. Jh. v. Chr. bis ca. 900 n. Chr. die Ge-schichte einer dem jüdischen Gott JHWH untergeordneten zweiten Gestalt nach, die mit »vergöttlichten« Menschen (Henoch, David) und »aufgewerteten« Engeln (Michael, Metatron) identifiziert wurde. Dabei geht es auch um Unterschiede in Palästina unter römischer Herrschaft und in Babylonien unter den Sasaniden. Vor allem in der Spätantike finden sich explizit Aussagen zu einem »zweiten Gott«. Doch wird die direkte Bezeichnung fast immer vermieden. Nur einmal spricht das mystische 3. Henochbuch vom »kleinen JHWH«, andere Texte fragen zurückhaltend, ob es »zwei Mächte (rāschūt) im Himmel« gebe.

Schäfer greift weit aus, um diese Aussagen auch vor dem Hintergrund des vor-christlichen Judentums des Zweiten Tempels verstehbar zu machen: Teil I setzt ein mit Dan 7,9–13 (2. Jh. v. Chr.), wonach der »Menschensohn« (vermutlich ein Engel) und der »Hochbetagte« (JHWH) am Ende der Tage zusammen die Erde richten werden. Auf diese Stelle beziehen sich fast alle folgenden Konzepte für die Idee einer richtenden und rettenden gottnahen zweiten Gestalt: Teil I behandelt neben der mit Dan 7 anhebenden Linie (z.B. Daniel-Apokryphon aus Qumran, Bilderreden in 1 Henoch) die u. a. hellenistisch beeinflusste Vorstellung von der uranfänglich bei Gott befindlichen personifizierten Weisheit und die Logos-Spekulation bei Philon. Ein Zwischenstück beleuchtet knapp, wie der »Menschensohn« und der Schöpfungsmittler den Christologien der Texte des späteren Neuen Testaments als Vorgaben dienten. Ob die in der Debatte (etwa von Boyarin) für die frühjüdischen Vorstellungen gebrauchte Bezeichnung »binitarisch« passend gewählt ist, sei dahingestellt. Teil II widmet sich dem rabbinischen Judentum und der frühen jüdischen Mystik: Nach dem Blick auf den palästinischen Beleg der Auslegung von Ex 20,2 in der Mekhilta konzentriert sich Schäfer auf die Hekhalot-Literatur: Das Ringen der Gestalter des babylonischen Talmud mit der mystischen Spekulation der Hekhalot-Texte über die himmlischen Thronhallen JHWHs wird geradezu spannend geschildert: Es ist besonders die rätselhafte Gestalt des Engels Metatron, der zugleich der transformierte Mensch Henoch aus Gen 5,24 ist, an der sich der Streit um die »zwei Mächte im Himmel« entzündet.
Am Ende fällt ein Schillern zwischen sehr pointierten (der jüdische Himmel sei »oft auch mit zwei Göttern [...] bevölkert« gewesen [151]) und zugleich zurückhaltenden Aussagen auf (»Ich spreche [...] vorsichtig von einer ›semi-göttlichen‹ Gestalt neben dem Schöpfergott« [152]). Aus alttestamentlicher Perspektive bleibt anzumerken: Schon der reduzierte Polytheismus bis 586 v. Chr. und der ab dem 6. Jh. v. Chr. folgende plastische Monotheismus umfassten immer auch göttliche Größen unterhalb von JHWH, was v. a. der Königsmetapher geschuldet ist, die einen Hofstaat (Engel) einschloss. Auch den Davididen Jerusalems verlieh man im Licht altorientalischer Königsideologie gottnahe Züge. Hierzu fällt auf, dass der für die Stellung des erhöhten Christus zur Rechten Gottes im NT entscheidende Textbeleg Ps 110,1 (LXX) im Buch nicht erwähnt wird.
Schäfer schließt mit der Betonung eines Spezifikums des Christentums: Die zweite Gestalt neben und unter Gott wird in jüdischen Quellen »niemals Mensch«, während »[i]m Christentum [...] die Menschwerdung des Gottes elementarer Bestandteil des Erlösungsprozesses« ist (153). Dabei sieht Schäfer die ihn besonders interessierenden »binitarischen Ideen des 3. Henoch und des Bavli [= Bab. Talmud], die am Ende dieses Prozesses stehen, auch als Antwort auf die neutestamentliche Botschaft von Jesus Christus« – eine »originär jüdische Antwort«, die auf christliche und plurale jüdische Transformationen der eigenen Traditionen reagiert (156). Dem ebenso konzentrierten wie reichhaltigen Buch, das zur genauen Lektüre und gelegentlich kritischen Rückfrage einlädt, sind in Zeiten intensiver Debatten über religiöse Identitäten viele theologisch und religionsgeschichtlich interessierte Leserinnen und Leser zu wünschen.

Friedhelm Hartenstein (München)

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