Buch des Monats: Oktober 2015

Eggers, David

Der Circle

Aus d. Amerikan. v. U. Wasel u. K. Timmermann. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2014. 559 S. Geb. EUR 22,99. ISBN 978-3-462-04675-5.

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Der jüngst erschienene Roman „Der Circle“ des 1970 geborenen, amerikanischen Literaten David Egers wurde zu einer in vielfachen Auflagen erschienen Pflichtlektüre der Digitalisierung und der mit ihr verbundenen ethischen Herausforderungen, weil Eggers ein virtuelles Pendant zu George Orwells „1984“ liefert und als literarische Ethik der Digitalisierung all jene warnt, die nur noch von Chancen statt Gefahren einer schönen, neuen, digitalen Welt reden mögen – Huxleys „Schöne neue Welt“ 2.0. Das Buch wurde in allen deutschen Leitmedien umfangreich besprochen, gelobt wie kritisiert.

Vorgelegt wurde von David Eggers ein Roman über die Bedeutung der Privatsphäre, wie er aktueller kaum sein könnte: Die 24-jährige Mae Holland ergattert einen jener Jobs in einer der attraktivsten Internetfirmen mit Namen The Circle, von dem heute Millionen von Berufsanfängern träumen. Dieser bietet futuristische Arbeitsumfelder, modernste Kommunikationstechnik und perfekte Arbeitsbedingungen, strebt aber nicht weniger an als digitale Interpretationsmacht weltweit. Möglich wird der Firma das, weil sie in der Weitsicht ihrer Führung bestehend aus den „drei Weisen“ (!) alle Kommunikationsdienstleistungen, wie sie die Welt von Google über Apple bis Twitter und allen übrigen sozialen Kommunikationsplattformen in sich vereint. Der Circle und seine Führung setzen um, wovor Internetkritiker wie der mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete Künstler und Autor Jaron schon lange warnen: „Du bist nicht ihr Kunde, Du bist ihr Produkt!“

Erreicht wird dies zunächst durch die völlige Aufhebung der Anonymität, ja der Verurteilung eines Rechts auf Anonymität und den eigenen Daten als solchen. Ethisch geschieht dies klassisch utilitaristisch im Verweis auf das greater good: Das Ganze diene doch streng utilitaristisch nur dem größten Glück der größten Zahl (vgl. J. S. Mill), denn diejenigen, die nichts zu verbergen hätten, müssten sich doch über absolute Transparenz keine Sorgen machen. Und wer so denke, der wolle doch sicher auch keine Gesellschaft, in der es Schmutz, Kriminalität, Ineffizienz oder Rechtsbruch gebe. Und all dies könne man in einer vom „Circle“ dominierten Gesellschaft digital sehr leicht abstellen.

Die Hauptfigur des Romans beginnt voller Begeisterung in einem optimierten Arbeitsumfeld, in dem die Mensa ein Sternerestaurant ist und die Büros futuristisch-lichtdurchflutet gestaltet sind, wo Popstars die Angestellten unterhalten und für die Abendunterhaltung auf Weltniveau ebenfalls gesorgt wird. Selbstfahrende Autos und ein perfektes Gesundheitssystem sind keine Zukunft mehr, sondern für die Mitarbeiter und Kunden Realität. Nur merken beide Gruppen nicht, wie durch die Sammelwut von Daten ein System der perfekten Überwachung entsteht. Eggers strebt in allen Detailbeschreibungen gezielt und sichtbare Parallelitäten zu den Praktiken der aktuellen Marktführer von Google bis Microsoft an, um zu signalisieren, was Mae zunächst nicht erkennt. Dass deren Credo letztlich ähnlich sei wie das des „Circle“: Secrets are Lies, Sharing is Caring, Privacy is Theft. Die Hauptfigur merkt dies erst, als sie auf einen mysteriösen Fremden trifft, der sie vor dem Gefahrenpotential der Firma warnt und sie zu gewinnen sucht, nach einer Katarsis gegen die Macht eines solchen Konzerns zu kämpfen.

Kritiker werfen dem Roman vor, ein verkapptes Sachbuch ohne schlagkräftige Argumente gegen die vom Autor kritisierte, absolute Macht der Internetkonzerne zu sein. Gelesen haben sollte man das Buch, weil es in einem veränderten gesellschaftlichen, digitalen Setup die Orwellschen Gefahren aktualisiert. Der Leser bekommt zumindest einen realistischen Eindruck, was eine Firma im Digitalzeitalter von einem Unternehmen wie Ford oder Bosch in der ersten industriellen Revolution unterscheidet. Es ist der komplette Zugriff auf Menschen über Informationen.
Die Firma „The Circle“ beschreibt ziemlich präzise das, was Ernst Troeltsch vor mehr als 100 Jahren mit dem Begriff „Sekte“ charakterisierte: Die Mitglieder bilden ein eigenes und selbstreferentielles System, das von dem Bewusstsein der Überlegenheit, rigoristischen Heilszusagen und von seiner Geschlossenheit geprägt ist. Mehr noch: Die Firma lebt bei nur scheinbarer, absoluter Transparenz inmitten einer Datenflut von der Macht, diese geschlossen kontrollieren und damit interpretieren zu können. Nur ist die Gefahr einer solchen Prägung im Circle anders als bei Troeltsch gerade nicht kleinteilig und weltabgewandt, sondern im Anspruch weltumspannend und im Informationszugriff total.

Wie realistisch, ethisch bedenklich und politisch gefährlich dies sein kann, zeigt „The Circle“ auf eindrückliche Weise. Denn in diesem wird „eine freundliche Apokalypse zu Ende gedacht“, die hier in nur scheinbar attraktiv digitalem Gewand daherkommt. Wer darum meint, das Internet ändere nur die Formate, nicht aber die Inhalte, der irrt. Eine Email schreibt man inhaltlich oft ganz anders als einen Brief – und dies ist mit Blick auf das besprochene Werk ein vergleichsweise harmloses Beispiel.

Nils Ole Oermann (Lüneburg)

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