Buch des Monats: Dezember 2019

Von Brück, Michael, u. Hans Zender

Sehen Verstehen SEHEN. Meditationen zu Zen-Kaligraphien

Freiburg u. a.: Verlag Karl Alber 2019. 299 S. Geb. EUR 39,00. ISBN 978-3-495-49022-8

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Die Typographie des Titels deutet es an: Wer versteht, sieht besser, ja ohne Verstehen gibt es gar kein wirkliches Sehen. Das Buch verdankt sich einem glücklichen Zufall. Seit Jahren hat Hans Zender, Komponist, Dirigent und Musikphilosoph in Meersburg, eine exquisite Sammlung von Kalligraphien berühmter Zen-Meister aus Japan zusammengetragen, die seine Kompositionen inspiriert und seine Einstellung zum Leben geprägt haben. In Meersburg hat er sie 2017 dem Religionswissenschaftler und Zen-Lehrer Michael von Brück gezeigt. Daraus entstand der Gedanke, zusammen eine Einführung in den Zen-Buddhismus vorzulegen, die nicht historisch oder systematisch vorgeht, sondern den Inspirationen der 17 Rollbilder folgt.
Wie bei einem Rundgang durch die Ausstellung werden die Kalligraphien zum Ausgangspunkt von Betrachtungen, Reflexionen und Beobachtungen, die Schritt für Schritt in das verstehende Sehen der Bilder und damit zugleich in die Philosophie, das Denken und das Erleben des Zen einführen. Jeweils wird das Rollbild in einer klaren Farbreproduktion vorangestellt. Dann folgen kurze und knappe Beobachtungen und Gedanken von Hans Zender, die immer wieder die Brücke schlagen vom Sehen zum Hören, vom räumlichen Darstellen zum zeitlichen Klingen. Daran schließen sich weiter ausschwingende Erläuterungen, Reflexionen und Bildmeditationen von Michael von Brück an, in denen der geistige Schatz des Zen-Buddhismus entfaltet wird. Schritt für Schritt baut sich so ein Verstehenszusammenhang von Beobachtungen, Einsichten, Kōans und Geschichten auf, die den Humor, die Poesie und die Einsichten der Zen-Meister und die existenzielle Tiefe ihrer Bilder verständlich werden lässt. Ein Vorwort von Zender sowie eine Einführung und ein Epilog von von Brück runden den Band ab.
Das Buch lädt zum Verweilen ein, zum Betrachten der Rollbilder, dem Nachdenken der Überlegungen von Zender und von Brück und dem erneuten Betrachten der Bilder im Licht der Lektüre. Das ganze Buch ist angelegt auf eine eigene Interaktion der Leser mit den Einsichten und Einblicken der Kalligraphien am Leitfaden der Betrachtungen der beiden Autoren. Dabei werden Differenzen nicht herabgespielt, sondern betont. Zender zitiert zustimmend den Zen-Poeten Ikkyū: »Immer den Regeln folgen, macht Esel, // Regeln brechen schafft Menschen.« (13) Von Brück schlägt den Bogen zu Meister Eckhart: »Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.« Das Öffnen von Lebenslinien im Augenblick des Sehens ist der Eintritt in eine Unendlichkeit, in der man im Gewebe des meditierenden Sehens das Geheimnis zu verstehen beginnt, »was es heißen kann, Mensch zu sein« (22). Das Leben intensiviert sich in ungeahnter Weise, wenn es gelingt, sich auf das Konkrete so einzulassen, dass man in ihm und bei sich die Gegenwart des Unendlichen zu erahnen beginnt. Ein Verstehen dieser Art kommt nicht zum Abschluss. Und das Sehen auch nicht.
Man muss kein Anhänger des Zen sein, um das mitvollziehen zu können. Zender und von Brück gelingt es in diesem ungewöhnlichen Buch eindrücklich, deutlich werden zu lassen, dass und wie im verstehenden Wahrnehmen und wahrnehmenden Verstehen vertraute Differenzen zwischen Innen und Außen, Gestern, Heute und Morgen, uns und anderen ihre Scheidekraft verlieren und als Momente des pulsierenden Leben des Universums einsichtig werden, dessen Rhythmus in der Kalligraphie flüchtige und fesselnde Gestalt gewinnt, die bei aufmerksamen Betrachtern Resonanzen erzeugt. Wer sich die Zeit nimmt, sich darauf einzulassen, hat mehr gewonnen als nur eine Auszeit vom Dauerrauschen des Internet.

Ingolf U. Dalferth (Claremont)

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