Buch des Monats: Juli/August 2019

Bernd Janowski

Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder

Mohr Siebeck Tübingen 2019, XVII + 805 S., mit einem Quellenanhang und zahlreichen Abbildungen, ISBN 978-3-16-150236-1 (Broschur), ISBN 978-3-16-156949-4 (Leinen), 44,00 und 99,00 EUR.

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In der alttestamentlichen Wissenschaft kann zurzeit von einer Hochblüte der Forschung zur Anthropologie der biblischen Texte gesprochen werden. Die Frage nach dem Menschen in seiner sozialen und natürlichen Lebenswelt, wie ihn die literarischen Traditionen der Hebräischen Bibel reflektieren und entwerfen, ist in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Neben den Neubestimmungen und Umorientierungen im Blick auf die Literaturgeschichte des Alten Testaments (etwa des Pentateuch), die das Fach intensiv beschäftigen, erweisen sich (kultur-)anthropologische Themen als ein fruchtbares Schnittfeld für interdisziplinäre Dialoge der Exegese mit den anderen theologischen Fächern und mit den (historischen) Kulturwissenschaften einschließlich der Religionswissenschaft. Dieses gesteigerte Interesse an biblischen Menschenbildern und den darin zum Ausdruck kommenden Seinsverständnissen einschließlich ihres hermeneutischen Potentials auch für Gegenwart war noch nicht abzusehen, als 1973 die »Anthropologie des Alten Testaments« von Hans Walter Wolff erschien. Das Werk erwies sich seinerzeit – in einer durch die Sozialwissenschaften geprägten akademischen und von der »Wort-Gottes«-Theologie dominierten kirchlichen Landschaft – als bahnbrechend. Erstmals erschien die Rückbesinnung auf die Dimension der Anthropologie statt auf die »Theologie« des Alten Testaments als zeitgemäße Vermittlung zwischen den historischen und systematischen Fächern, weshalb das Buch schnell auf große Resonanz stieß. Bis heute sind Einsichten aus Wolffs glänzend geschriebenem Buch wirksam.
Indem nun nach fast 50 Jahren unter demselben Titel »Anthropologie des Alten Testaments« erneut ein führender Alttestamentler ein umfassendes Werk zum Thema vorlegt, können der Erkenntnisfortschritt wie die Ausdifferenzierung der Einzelforschung erstmals in vollem Umfang von jedermann nachvollzogen werden. Bernd Janowskis monumentales opus magnum, in dem eine lebenslange Beschäftigung mit anthropologischen Themen der Bibel ihren Höhepunkt erreicht, darf schon jetzt als das künftig unentbehrliche Standardwerk zu allen Fragen im Umkreis bezeichnet werden. Die Hauptdifferenz zu Wolff, auf dessen Vorbild sich Janowski immer sehr bewusst bezieht, wird schon aus der Widmung deutlich: »In Erinnerung an Hellmut Brunner (1913–1977), Walter Burkert (1931–2008), Elena Cassin (1909–2011), Jean-Pierre-Vernant (1914–2007), Hans Walter Wolff (1911–1993)«. Es handelt sich nicht lediglich um eine persönliche, sondern auch eine akademisch-kulturelle Erinnerung mit aufforderndem Charakter: Die mit diesen Namen verbundenen Quellenerschließungen und Interpretationen zu den antiken Kulturen Ägyptens, Griechenlands und Mesopotamiens stehen für die anthropologische Wende der historischen Kulturwissenschaften im 20. Jahrhundert. Sie repräsentieren dabei einen bestimmten Zugang der vorurteilsfreien Neugier auf das Fremde und Andere antiker Menschen und ihrer prägenden Lebensverhältnisse. Strukturalistische wie kulturanthropologische Forschungen haben nachhaltig gelehrt, wie sehr es auf eine möglichst umfassende Rekonstruktion und »dichte Beschreibung« (Clifford Geertz) der symbolischen Systeme ankommt, ohne die eine begründete Annäherung an antike Bedeutungsgehalte nicht erreicht werden kann. Bernd Janowski ist nicht nur ein exzellenter Kenner v.a. der französischen Kulturwissenschaft des 20. Jahrhunderts, sondern hat sich deren Perspektiven für seinen Zugang zur Anthropologie des Alten Testaments höchst produktiv angeeignet. Deshalb müssen über die genannte Namen hinaus auch die Ethnologie (Claude Lévi-Strauss) und Paläoanthropologie (André Leroi-Gourhan) als ständige Bezugsgrößen genannt werden. Die überaus konzentrierte Darstellung verrät dies vor allem in der Grundlegung und in der abschließenden Sicherung der Ergebnisse. Ein ebenso umfangreiches wie extrem nützliches Literaturverzeichnis dokumentiert die intensive Auseinandersetzung mit den Nachbarwissenschaften wie deren leitenden Theorien. Einschränkend kann allenfalls bemerkt werden, dass das Werk allerneueste (paläo-)anthropologische Forschungen nicht mehr einbezieht, was aber angesichts der durch das Thema gegebenen Fokussierung auf die antiken Kulturen völlig einleuchtet.
Was dürfen Lesende von Janowskis alttestamentlicher »Anthropologie« erwarten? Eine ebenso konzentrierte wie strukturierte Gesamtdarstellung, die sich zugleich der nicht erreichbaren Vollständigkeit bewusst ist. Insofern erschließt das Buch die Vielfalt der Phänomene vor allem durch exemplarische Hervorhebung anhand zahlreicher sehr gut ausgewählter biblischer Beispieltexte. Auch ermöglicht ein umfangreicher Quellenanhang (150 Seiten!) den Rückgriff auf antik-orientalische Textbeispiele und Bilder zum Vergleich und zur Einordnung der biblischen Themen. In seiner konzisen Einleitung formuliert Janowski als die Grundaufgabe des Werkes – dabei den Zugang Wolffs bewusst überschreitend –, »die konkreten Lebensumstände, die literarischen Kontexte und die anthropologischen Konstanten [...] umsichtig zu erfassen und im Sinn eines integrativen Ansatzes aufeinander zu beziehen. Das bedeutet zum einen, dass Letztbegründungen metaphysisch-spekulativer Provenienz zu vermeiden sind, und zum anderen, dass an der Vieldimensionalität des/r alttestamentlichen Menschenbildes/r festzuhalten ist, die Raum für partikulare Besonderheiten (konkrete Lebensumstände, literarische Kontexte) wie für universale Merkmale (anthropologische Konstanten) lässt« (39). Die Konzentration auf die biblischen Texte erklärt dabei die weniger starke Einbeziehung der materiellen Kultur des alten Palästina, die aber durchgängig als Bezugsgröße präsent ist. Der Aufriss der Darstellung, wie er in der Einleitung vorgestellt wird, ist bestechend einfach und macht das Buch leicht zugänglich: Auf die grundsätzliche Einführung (I. Was ist der Mensch? [§ 1]) folgen zunächst in einem ersten großen Hauptteil (in der Gliederung nicht ausgewiesen, vgl. aber S. 41) Grundthemen des menschlichen Lebens im lebensweltlichen Kontext (§§ 2–9): II. Phasen des Lebens, III. Elemente des (sc. konstellativen) Personbegriffs, IV. Formen des sozialen Handelns (darin auch Arbeit, Gerichtswesen u.ä.), V. Aspekte der Welterfahrung (Raum und Zeit). Ein zweiter Hauptteil (§§ 10–12) entfaltet »Bilder vom Menschen – Anthropologien im Alten Testament« in ihrer Vielstimmigkeit entlang der kanonischen Textabfolge der Hebräischen Bibel, wobei synchrone wie diachrone Gesichtspunkte leitend sind (vgl. zu Letzterem auch die orientierende Übersicht S. 527: »Phasen der alttestamentlichen Literaturgeschichte« mit den jeweiligen anthropologischen Aussagen, die ein zunehmendes theologisches Explizitwerden der Einsichten zum Menschen belegen). Der Schlussteil (VII. Der ganze Mensch [§ 13]) sichert die Ergebnisse zunächst in literatur- wie theologiegeschichtlicher Hinsicht (Entdeckung des »inneren Menschen«), sodann auch im Blick auf die sich leitmotivisch durch das Buch ziehenden drei wesentlichen Charakteristika der alttestamentlichen Menschenbilder (§ 13.2): Die »Erfahrung der Leiblichkeit« und ihr Bewusstwerden, das »Ethos der Gerechtigkeit«, das zwischen Ideal und Realität bewährt werden muss, sowie das basale »Bewusstsein der Endlichkeit« wie es vor allem in der Urgeschichte Gen 1–11, den Psalmen und Weisheitstexten hervortritt.
Dabei sind zwei wichtige hermeneutische Ergebnisse hervorzuheben: Im Gegensatz zur neuzeitlichen Subjektorientierung einer philosophischen (und entsprechend angelegten protestantischen) Anthropologie deckt eine »Anthropologie des Alten Testaments« immer die grundlegende Bezogenheit des Menschen auf den Schöpfergott auf: »Das ist ein wesentlich anspruchsvolleres Konzept als die reduktionistische Selbstbezüglichkeit des vernunftbestimmten Menschen von Kant und seinen idealistischen Erben« (547). Zum anderen liegt der explizit theologische Ertrag von Janowskis Anthropologie gerade im Festhalten der hermeneutischen Spannungen, denen die Bearbeitung eines so »großen« Themas ausgesetzt bleibt: Es geht bei der aus christlicher Sicht zu Recht als grundlegend für das AT benannten »Empathie des Schöpfergottes« nicht um ein »naives Plädoyer für die Rückkehr zum Menschenbild des Alten Testaments« (547). Dafür sind die im vorliegenden Werk vor allem mit Blick auf die historischen Kulturwissenschaften eindrücklich herausgestellten Elemente der Fremdheit und Ferne dieser vergangenen Welt zu widerständig. Dennoch ist es genau dieses Bewusstsein zusammen mit den »überzeitlichen« Merkmalen des Menschseins, welche die theologische Beschäftigung mit der »Anthropologie des Alten Testaments« so wertvoll und herausfordernd macht: »Die anthropologischen Einsichten des Alten Testaments, die in der zweigeteilten christlichen Bibel aufbewahrt sind, prägen uns mehr als uns zuweilen bewusst ist« (547). Janowski sieht seine umfassende Anthropologie daher in der zutiefst theologischen Absicht begründet, der Verflachung und Vereinfachung gesellschaftlicher und theologischer Vorurteile zur Bibel entschlossen entgegen zu treten. Genau hier trägt sein wunderbares Buch zur differenzierten Urteilsbildung bei. Dafür ist dem Autor sehr zu danken: Eine uneingeschränkte Leseempfehlung, die jedem Interessierten dringend ans Herz gelegt sei.

Friedhelm Hartenstein (München)

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