Buch des Monats: Juli/August 2013

Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong

Kirche

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2013. 477 S. = Lehrbuch Praktische Theologie, 4. Geb. EUR 29,99. ISBN 978-3-579-05990-7

Schon der Titel „Kirche“ als vierter Band einer ursprünglich auf drei Bände (Religionspädagogik, Homiletik, Seelsorge) angelegten Reihe „Lehrbuch Praktische Theologie“ verdient Aufmerksamkeit. Damit avanciert seit dem ersten praktisch-theologischen Versuch einer „Kirchentheorie“ durch Rainer Preul (1997) das früher der Systematischen Theologie als Ekklesiologie vorbehaltene Thema zu einer praktisch-theologischen Disziplin. Offenkundig stellen sich bei „Kirche“ praktisch-theologische Probleme, die nicht mehr nebenbei in den an der pastoralen Tätigkeit orientierten „klassischen“ Disziplinen zu bearbeiten sind. Dass sich dadurch die ganze Systematik des Fachs verschiebt und eine neue enzyklopädische Formatierung notwendig macht, ist unübersehbar und könnte der praktisch-theologischen Theoriebildung einen Innovationsschub geben.
Für das Thema „Kirche“ sind Autor und Autorin des Bandes ein Glücksfall. Beide sind mit originellen und weiterführenden Thesen zur Kirchentheorie hervorgetreten: Uta Pohl-Patalong durch das Konzept der „Kirchlichen Orte“, mit dem sie die unfruchtbaren Spannungen zwischen parochialen und funktionalen Diensten konzeptionell überwindet; Eberhard Hauschild mit der These von der Kirche als „Hybrid“, die die Differenzierung von Kirche als Institution, Organisation und Bewegung als notwendigen Zusammenhang erfasst und ebenfalls problematischen Antagonismen entgegentritt.
Doch nicht nur diese beiden Theorieansätze werden – neben didaktisch gut aufbereitetem Überblickswissen, das zu einem Lehrbuch gehört und hier nicht aufgezählt wird – im Zusammenhang entfaltet. Bei genauerer Lektüre stößt der/die Leser/in auf eine Vielzahl weiterführender Perspektiven und Einsichten, die hoffentlich auch in der Systematischen Theologie zur Kenntnis genommen werden. Ein Beispiel:
Im Kapitel zur gegenwärtigen Situation der Kirche nimmt der Begriff „Relevanz“ einen wichtigen Platz ein. Von Ernst Lange homiletisch eingeführt wird „Relevanz“ jetzt auf Kirche und/oder christliche Religion bezogen. Dabei gilt grundlegend: „Relevant ist dann das, was beim Individuum Aufmerksamkeit erhält (sei es aus eigenen Interessen, sei es durch Umstände oder Gesellschaft sich aufdrängend), dabei interpretativ verarbeitet wird und ggf. sich einstellungs- bzw. handlungsverändernd auswirkt.“ (110) Demnach geht es in einer gegenwartsbezogenen Kirchentheorie nicht mehr (primär) um das, was „an sich als wichtig und bedeutungsvoll“ (ebd.) gilt, sondern was von den Subjekten als solches beurteilt wird. Praktische Theologie bezieht sich dann sinnvollerweise auf kommunikative Prozesse, nicht auf allgemein (anscheinend) feststehende Lehrsätze. Dies hat Auswirkungen bis hin zur den Band abschließenden typologischen Bestimmung der sechs Aufgaben von Kirche (ausgeführt 415-437):
Die Kommunikation des Themas direkt (z.B. in Gottesdiensten, Glaubenskursen) und indirekt (z. B. in Kirchenräumen, Jugendarbeit); die Kommunikation des Evangeliums direkt auf Subjekte bezogen (z. B. Seelsorge, Kasualien) und indirekt (z. B. Gruppen, Hauskreise); die auf die Welt bezogene Kommunikation des Evangeliums direkt (z. B. Diakonie; Stadtteil- bzw. Gemeinwesenarbeit) und indirekt (z.B. Denkschriften, Kirchentag). So zeigen Hauschildt und Pohl-Patalong, wie Kirche zum einen thematisch klar und zum anderen weit ausgreifend agieren kann.
Schließlich geht das Lehrbuch dadurch über bisherige kirchentheoretische Ansätze heraus, dass es auch komparativ ausgreift. Bevor die Strukturen der evangelischen Kirchen in Deutschland dargestellt werden, findet sich ein Abschnitt zu „Kirche als Konfessionsgebilde“ (221-245), der neben orthodoxen Kirchen, katholischer Kirche und Kirchen der Reformation die „Pfingstkirchen und andere Heiligungskirchen“ vorstellt. Schon mit den nur wenige Seiten umfassenden skizzenartigen Grundinformationen wird ein Spannungsfeld eröffnet, das die Stärken und Schwächen der eigenen kirchlichen Tradition hervortreten lässt.
Enthält dieser Teil bereits Impulse für die noch leistende Arbeit, so wird an anderer Stelle der „work in progress“-Charakter des Buchs deutlich. Z. B. bedient sich – von den Autoren korrekt notiert – das Kapitel zu den „Kirchenbildern“ eines anderen Organisationsbegriffs als das Kapitel zu den „Strukturen der Kirche“ (s. 221). Vielleicht könnten hier kommunikationstheoretische Modelle helfen, Zusammenhang und Differenz auf den Begriff zu bringen. Doch zeichnen nicht zuletzt solche offenen Fragen den Band als ausgezeichnetes praktisch-theologisches Lehrbuch aus. Angesichts des schnellen kulturellen und gesellschaftlichen Wandels wäre ein systematisch (ab)geschlossenes Opus eher ein Alarmsignal.

Christian Grethlein (Münster)

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