Buch des Monats: Mai 2016

Menasse, Robert

Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa

Berlin: Suhrkamp Verlag  2014. 176 S. = edition suhrkamp, 2689. Kart. EUR 10,00. ISBN 978-3-518-12689-9

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Dem 1954 geborenen österreichischen Schriftsteller und Essayisten Robert Menasse ist mit dem vorliegenden Essayband dadurch ein politischer Aufreger gelungen, dass er in 13 veröffentlichten Reden und Interviews eine so stringente wie umstrittene und dabei sehr alte These vertritt. Sie lautet: In einer Welt, die längst ein transnationales Gebilde geworden sei, gebe es nichts mehr von Belang, das allein auf nationaler Ebene geregelt oder verhindert werden könne.
Kurz: Menasse vertritt nicht weniger als das Ende des Nationalstaates, wie wir ihn spätestens seit 1648 als Garant innerer und äußerer Sicherheit in Ausübung seiner Souveränität als Ergebnis des Friedens von Münster und Osnabrück schätzen gelernt haben. Das „Westphalian Model“ souveräner Nationalstaaten habe ausgedient und an seine Stelle solle ein regionaler wie transnationaler Heimatbegriff treten, der dazu führen werde, dass die Nationen sterben werden (2). Das Kontinuum, was Menschen verbinde, seien nicht nationale Grenzen, sondern vielmehr die Regionen und ihre kleinen Einheiten, die durch ein lokales Heimatverständnis allen nationalen Egoismen vorbeugen könnten, einem Nationalismus, der Europa schon mehrfach in Schutt und Asche gelegt habe.
Die Utopie, die dem Autor letztlich vorschwebt, ist ein Europa, in dem sich Katalanen und Tiroler, Waliser und Hessen jenseits nationaler Grenzen zusammenschließen – und zwar allein aufgrund gemeinsamer Interessen und in dem Bewusstsein der eigenen Wurzeln, Werte und Überzeugungen. Das sie Verbindende ist ein lokal gelebtes Verständnis von Heimat im Sinnes eines belonging.
Das Ergebnis eines solchen Heimatbegriffs als „schönster Utopie“ (70ff.) werde sein, dass sich Länder wie Deutschland oder Österreich mittelfristig auflösen, weil es keinen Bedarf mehr für sie gebe. Menasse träumt – vergleichbar manchem Postdemokraten – von einer „nachnationalen Demokratie“ (81.89) – wobei er gut wie gern einräumt, noch keine Antwort darauf zu haben, wie man den von ihm zum Mantra erhobenen Begriff „Region“ definieren, geschweige denn handlungsorientiert politisch nutzbar machen kann.
Ausgerechnet auf das Habsburger Modell als Netzwerk kleiner Entitäten in all ihrer kulturellen Vielfalt verweist der linke Traditionalist Menasse, wenn es darum geht, ein best practice seiner Utopie zu benennen, um sich in der Folge exemplarisch damit gegen den national konnotierten Begriff „Alpenrepublik“ für seine österreichische Heimat zu verwahren: „Berge. Ich habe nichts gegen das Landleben. Aber ich habe etwas gegen Berge, wenn sie zum Identifikationszwang für ein ganzes Staatsvolk, auch für Städter, werden.“ (87)
Auch wenn man mit Menasses historischer Analyse des habsburgischen Kaiserreichs als eines multikulturellen Erfolgsmodells keineswegs konform gehen mag, so regt der Essayist durch seinen wie immer exzellenten Umgang mit Sprachen und Begriffen dazu an, sich mit der Renaissance des Heimatbegriffs jenseits von Globalisierung und neuen nationalen Egoismen gerade hinsichtlich aktueller Debatten um den Kern und die Zukunft Europas neu auseinanderzusetzen. Und schnell wird so aus einem utopisch aufgeladenen Heimatbegriff ein Politikum, ja eine literarisch aufregende Anfrage an eigene Identitäten: Nicht wer wir sind, sondern wer wir sein wollen, das ist das Thema dieses Bandes.

Nils Ole Oermann (Lüneburg)

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