Buch des Monats: Mai 2018

Manfred Lütz

Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums.

Freiburg/Basel/Wien: Herder 2018. 286 S. Geb. EUR 22,00. ISBN 978-3-451-37915-4.

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»Religion assoziiert man mit Gewalt, Intoleranz und Unvernunft. Um die vielen friedliebenden Muslime in Schutz zu nehmen, beeilen sich manche Christen zu beteuern, dass auch das Christentum eine Gewaltgeschichte hat. [...] Wenn man schließlich hört, dass Hindus in Indien Moscheen anzünden und Buddhisten in Myanmar dabei sind, ein ganzes muslimisches Volk zu vernichten, dann liegt der Gedanke nahe, dass man es um des lieben Friedens willen doch vielleicht mal ganz ohne Religion versuchen sollte. Das hat man im 20. Jahrhundert probiert. Das Ergebnis war erschütternd. Die drei Diktatoren Josef Stalin, Adolf Hitler und Mao Tse-tung haben mit ihren atheistischen Ideologien zusammen etwa 165 Millionen Menschen ums Leben gebracht.« (21) Und wie viele Tote wären es, nähme man die Diktaturen in Südostasien, Lateinamerika und Nordkorea hinzu? Aber um einen Wettbewerb der Opferzahlen geht es nicht. Was Manfred Lütz, Theologe, Psychiater und Sachbuchautor, sagen will, ist dies: Mensch bleibt Mensch. Im Griff bösartiger Ideologien werden Menschen oft zu Unmenschen. Und manchmal werden sie genau das auch, obwohl sie wissen könnten, wozu sie Gott bestimmt hat: zu Glaube, Liebe, Hoffnung. Aber ihr Ego steht dagegen – oder die geschichtlichen Verhältnisse oder beides, manchmal auch nur Dummheit oder Angst. Und so wird es bleiben, so war es schon zu Jesu Zeit. »Nur einer von 12 Aposteln harrte unter dem Kreuz aus [...] Und am Ende der Welt sieht das Neue Testament den großen Glaubensabfall [...], den dramatischen Untergang dieser Welt.« (284) Seien Sie beruhigt, Lütz geht nicht davon aus, dass morgen die Welt untergehen wird. Dennoch ist diese Provokation nötig. Landauf, landab will man die Welt verändern. Das wollen wir alle: die Bösen, die meinen, sie seien die Guten – und die Guten, die nicht merken, dass sie den Bösen immer ähnlicher werden. Die Welt aber bleibt, was sie ist – wunderbar und schrecklich zugleich, in welchem Entwicklungsstadium auch immer.
Wer das nicht akzeptiert, fängt an Schuldige zu suchen. So titelte der Philosoph Herbert Schnädelbach im Jahr 2000 »Der Fluch des Christentums« und Jan Assmann meinte, dass der Monotheismus genuine Ursache für Gewalt sei. Beide haben ihre Thesen inzwischen zurückgenommen, was jedoch kaum ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist, da das nur den Skandal erinnert, nicht aber den Skandal der Skandalisierung. Hier setzt Lütz an. Er bedient sich dabei vornehmlich der Forschungsergebnisse des Historikers Arnold Angenendt, der in seinem 800-Seiten-Buch »Toleranz und Gewalt – Das Christentum zwischen Bibel und Schwert« eine nüchterne De-Skandalisierung vorgenommen hat. Lütz’ Absicht ist darum die Popularisierung dieser und vieler anderer historischer Forschungen. Solche Aufklärung ist deshalb »dringend nötig, weil der Wegfall des Christentums als verbindende Kraft die ganze Gesellschaft in eine schwere Krise gestürzt hat« (12). In zwölf Kapiteln bearbeitet Lütz den Vorwurf der angeblichen Gewaltaffinität von Religion, die sogenannte »Schwertmission«, Kreuzzüge und Ketzerverfolgungen, Inquisition und Reformation, Hexenverfolgungen und Indianermission, das Aufkommen der Menschenrechte, Sklavenbefreiung, Aufklärung, Französische Revolution, das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes, Nationalsozialismus, Antijudaismus und Antisemitismus, Zölibat und Sexualmoral sowie im letzten Kapitel »die Krise des Christentums und die Flüchtlinge«.
Der Mann hat Mut. Lütz spart kein Reizthema aus. Und dafür wird er geschlagen, allen voran von Friedrich Wilhelm Graf in der FAZ vom 23. März 2018. Um zu zeigen, was hier vor sich geht, muss man wenigstens ein Beispiel zitieren: Lütz schreibt:

»Die Pogromwelle, die auf die Pest 1348/50 folgte, betraf vor allem Deutschland. Sie war brutal und in einigen Städten sogar von der Obrigkeit sorgfältig organisiert [...] Eine Agitation von Geistlichen fehlte völlig, wie der marxistische Mittelalterhistoriker Frantisek Graus betont. Papst Clemens VI. habe sogar zwei Bullen zum Schutz von Juden erlassen – ohne Erfolg. Immer wieder tauchte bei den Mordaktionen eine Koalition von Patriziern und Zünften auf. Denn es ging nicht zuletzt durchaus ums Geld, man nutzte die Gelegenheit, um sich hemmungslos zu bereichern. Es gab in Deutschland tausende Opfer. Es zeigte sich also, dass selbst die Päpste gegen die abergläubischen Volkstumulte letztlich machtlos waren. In ihrem eigenen Machtbereich, dem Kirchenstaat, wurden die Juden dagegen nie ernstlich belästigt. [...] Wohl erfolgte 1569 die Ghettoisierung, aber keine Vertreibung, und die von Papst Gregor XIII. verordneten Judenpredigten, an denen die Juden Roms teilnehmen mussten, erschienen eher als Pflichtübungen, hatten jedenfalls keinerlei Effekt.« (226)

Was macht Graf daraus? Er moniert weder hier noch sonst irgendwo Fakten oder Zitate. Er deutet schlicht anders:

»Selbst beim schwierigen Thema des Verhältnisses von Juden und Christen will Lütz ›die Kirche‹ vor Kritik schützen. Für die Pogrome im hohen Mittelalter hätten ›Leute von geringer Bildung und minderen Standes‹ die Verantwortung getragen, niemals aber Geistliche. ›Immer wieder stemmten sich die Päpste gegen die Judenverfolgung. ‹ Im Kirchenstaat seien ›die Juden nie ernstlich belästigt‹ worden. Die von Gregor XIII. angeordneten ›Judenpredigten‹, an denen alle Bewohner des römischen Ghettos teilnehmen mussten, bagatellisiert Lütz zu ›Pflichtübungen‹ ohne ›Effekt‹.«

Deutung steht gegen Deutung. M. E. bagatellisiert Lütz nicht, sondern tut, was ein Historiker tun sollte: Geschehnisse einordnen, statt sie ideologisch zu instrumentalisieren. Das will eigentlich auch Graf, für den die Geschichtswissenschaft im »gelingenden Fall« das »Geschäft der analytischen Differenzierung« ist. Genau das tut Lütz weithin – die Skandalisierer des Christentums, die er zu korrigieren sucht, sind es doch, die es an Differenzierung haben fehlen lassen. Und das ist nach wie vor gang und gäbe. Man muss schon in einem sehr fest abgeschlossenen Kokon leben, um das nicht zu sehen, oder eben zu denen gehören, die, wie Lütz an Schnädelbach und Assmann vorgeführt hat, gar nicht mehr bemerken, dass sie in Blick auf das Christentum grob Falsches oder höchst Undifferenziertes nachreden. Lütz könnte mit einer langen Beispielkette ergänzt werden, hier nur drei:
Was soll man von einem freundlich gemeinten Journalisten-Satz halten wie dem: »Die Idee des Christentums ist eher pazifistisch, obwohl auch Jesus vom Schwert spricht ...«? Die eine der beiden berühmten Schwert-Stellen steht bei Matthäus 26,52: »Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.« Gemeint ist wohl die andere, Matthäus 10,34–35: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.« Jeder, der die Stelle nachliest, merkt, dass es hier nicht um ein Kriegsgerät geht, sondern um den Glaubensstreit, der sich an der Botschaft Jesu entzündet. Die Stelle ist eindeutig. Oder: Wie soll man dem Unfug begegnen, dass unermüdlich vom »alttestamentarischen« Rachegott des »Auge um Auge, Zahn um Zahn« (2. Mose 21,23–25) gesprochen wird? Ein Blick in Wikipedia reicht: »Nach rabbinischer und überwiegender historisch-kritischer Auffassung verlangt der Rechtssatz bei allen Körperverletzungsdelikten einen angemessenen Schadensersatz vom Täter, um die im Alten Orient verbreitete Blutrache illegal zu machen, durch eine Verhältnismäßigkeit von Vergehen und Strafe abzulösen und Gleichheit vor dem Gesetz für Männer und Frauen, Arme und Reiche herzustellen.« Hier wird ein Meilenstein der Rechtsgeschichte, die natürlich weitergegangen ist, zur gedankenlosen Diffamierung vor allem der jüdischen – manchmal auch der christlichen – Tradition benutzt. Und ein drittes Beispiel: Der Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen Konstantin von Notz fügte in einem Idea-Interview (Nr. 16, 18. April 2018) der Kritik an muslimischem Antisemitismus sofort bei: »Wenn es um Judenhass geht, braucht man allerdings nicht erst in andere Länder schauen: Trotz christlicher Prägung hat Deutschland von 1933 bis 1945 die schlimmsten Verbrechen an den Jüdinnen und Juden begangen.« Natürlich: Wir Deutschen haben hier zuerst auf uns selbst zu zeigen. Doch zur historischen Differenzierung muss gesagt werden, dass die Nazis, die den Holocaust verantworteten, eben gerade keine »christliche Prägung« hatten, sondern eine dezidiert antichristliche. Bei aller Schuld, die auch Christen aus Angst oder Verblendung in der nazistischen Diktatur auf sich geladen haben, ist das festzuhalten.
Um diese Art verunglimpfender Argumentationsstrukturen geht es Lütz. Warum sollten Christen sich nicht dagegen zur Wehr setzen? Die Skandalisierung des Christentums ist selbst hohle Apologetik. Nur sagt das kaum einmal jemand – aus Angst, dann zum »geistlosen Apologeten« abgestempelt zu werden. Dass dies unsere Situation ist, dafür liefert Graf mit seinem Verriss des zur Debatte stehenden Buches den direkten Beweis.
Es ist höchster Ehren wert, dass Lütz Gegenwehr leistet. Und als Katholik darf er natürlich vor allem seine Kirche verteidigen, dazu steht er auch. Gewiss: Mancher Lutheraner hätte sich nicht darauf beschränkt, in Blick auf das Hexenproblem bei Luther einen Ausfall zu konstatieren, sondern darauf hingewiesen, dass beispielsweise der württembergische Reformator Johannes Brenz eine sehr kritische Haltung gegenüber dem Hexenglauben und der Hexenverfolgung einnahm. Und Protestanten werden zum Unfehlbarkeitsdogma, zum Zölibat und dem Pillenverbot durchaus noch anderes sagen. Aber dessen ungeachtet ist durchaus lesenswert, was Lütz dazu sagt. Darum sei sein Buch auch Protestanten ausdrücklich empfohlen – ganz besonders Kapitel VI: »Der größte Justizirrtum aller Zeiten – Erstaunliches über die Hexenverfolgungen«.
Lütz führt unzählige Absurditäten vor, zum Schluss die: Als Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 Yad Vashem besuchte und mit »brechender Stimme« dieses Menschheitsverbrechen beklagte, verstummte sogar in Israel und den USA jede Kritik an dieser Reise. »Nur in Deutschland gab es immer noch einige, die kritisierten, der Papst hätte sich klarer und heftiger für den Holocaust entschuldigen müssen. Man bedenke: Dem polnischen Papst, selbst Opfer deutscher Zwangsarbeit, wird von Deutschen vorgeworfen, sich für deutsches Unrecht nicht rückhaltloser entschuldigt zu haben. Difficile est satiram non scribere.« Alles nur »dürftige Polemik, die mit ein paar Halbwahrheiten und billiger Medienschelte« falsche Eindeutigkeit erzeugen will, wie Graf schreibt?
Lütz dankt fünf international anerkannten deutschen Historikern und Theologen (Heinz Schilling, Christoph Markschies, Hubertus Drobner, Karl-Joseph Hummel, Bertram Stubenrauch) für das Gegenlesen seines Buches. Ihm schwante wohl schon nichts Gutes. Genützt hat die professorale Absicherung nichts, aber es ist erfreulich, couragierte Wissenschaftler zu sehen, die nicht dem Dünkel anhängen, nur Bücher für ein kleines Fachpublikum seien gute Bücher. Danach dankt Lütz wie in allen seinen Büchern auch seinem Frisör – ein running gag mit ernstem Hintergrund. Lütz schreibt eben nicht für ein Fachpublikum, sondern für die Allgemeinheit, und von der möchte er verstanden werden. Das nimmt Graf in nicht zu übertreffender Humorfreiheit zum Anlass, ausfällig zu werden: »Für anspruchsvolle Leser ist das Buch gerade wegen dieser Simplizität ungenießbar. Gut nur, dass Lütz’ Affirmationsgeschichte für das intellektuelle Niveau im deutschsprachigen Bildungskatholizismus nicht repräsentativ ist.« Was ist das? Zorn darüber, dass hier einer, der schon viele Bestseller geschrieben hat, im eigenen Revier wildert? Darf man nur für ein imaginäres Bildungsbürgertum schreiben, das es kaum noch gibt? Welcher Arzt, Politiker, Rechtanwalt usw. hat Angenendt selbst gelesen? Oder schimpft hier ein antiklerikaler Liberaler Theologe, dessen ehemalige Klientel sich nahezu aufgelöst hat, weil die Theorie vom Christentum ohne Kirche in der Praxis nicht funktioniert? Es ist, wie Lütz sagt: Nicht nur haben Nazis und Kommunisten sehr effektiv das Christentum (und auch das Judentum) mit Dreck beworfen, auch die Christen untereinander waren hier fleißig am Werk. So sei mit Lütz geschlossen: Das Christentum ist »die Religion der nicht Perfekten, der Sünder, die auf die Gnade Gottes hoffen, was Martin Luther leidenschaftlich bewegt hat« (284). Über 2000 Jahre lang hat die »Religion der Sünder« es immer wieder vermocht, sich um ihres Gottes willen, aber zum Nutzen für die Welt in schmerzlichen Prozessen zu korrigieren und neuen Lebensverhältnissen anzupassen. Wenn wir das nicht wegwerfen wollen, ist nun die Zeit gekommen, Selbstaufgabetendenzen zu widerstehen.

PS: Kürzlich war ich bei meiner Frisöse und blätterte, nachdem ich die mitgebrachte FAZ durchgeschaut hatte, in der Bunten. Anlässlich des bevorstehenden Osterfestes wurden mehr oder weniger Prominente nach ihrer Haltung zur Religion gefragt: Peter Hahne war dafür, viele waren sich nicht so sicher. Das Dagegenvotum des aus Ostdeutschland stammenden Schau¬spielers Sven Martinek folgte exakt der alten SED-Diktion: »Ich bin ein Gegner von Religion. Erst wenn alle Religionen abgeschafft sind, ist es ein Zeichen dafür, dass sich das Bewusstsein der Menschen weiterentwickelt hat.« (Bunte vom 28.03.2018)

Annette Weidhas (Leipzig)

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