Buch des Monats: Oktober 2012

Poser, Ruth

Das Ezechiel-Buch als Trauma-Literatur.

Brill: Leiden/Boston 2012. = Supplements to Vetus Testamentum, 154. VII, 738 S. Geb. EUR 229,30. m. Abb. 23,5 x 15,5 cm. ISBN 978-90-04-22744-6.

Wenn das Thema des posttraumatischen Belastungssyndroms in den letzten Monaten und Jahren auch relativ häufig in den Medien erscheint, so wirkt der Titel dieses Werkes für die traditionelle historisch-kritische Exegese zunächst doch ungewöhnlich. Es gibt bislang nur ganz wenige Arbeiten in der alttestamentlichen Forschung, die diesen Zugang wählen und so ist die hier vorliegende Arbeit durchaus originell. Ein allgemeiner Überblick über die Traumaforschung sowie eine Darlegung des komplexen Verhältnisses von traumatischer Erfahrung und Literatur weisen den Leserinnen und Lesern dieser umfangreichen und gehaltvollen Marburger Dissertation, für die die Autorin den renommierten Hanna-Jursch-Preis des Jahres 2012 bekommen hat, in den einführenden Kapiteln den richtigen Weg und stellen die hier vorliegende Arbeit in einen größeren Forschungskontext, wie er in der Literaturwissenschaft bereits in einem breiteren Rahmen angewendet wurde. Dabei bildet u. a. das Werk von Ronald Granofsky The Trauma Novel. Contemporary Symbolic Depictions of Collective Disaster (American University Studies, Series III: Comparative Literature 55), New York u. a. 1995 eine wichtige theoretische Grundlage für die Erschließung des Ezechielbuches, das hier konsequent als eine fiktionale Größe und als literarischer Versuch, die Exilskatastrophe zu verarbeiten, verstanden wird.
Traumatisierte Individuen wie auch Kollektive befinden sich in einer ambivalenten Spannung zwischen dem Schweigen als dem Resultat der Verdrängung des Geschehenen und dem Wunsch nach dem Erzählen-Können, das letztlich einen wichtigen Schritt zur Bewältigung des Traumas darstellt. Dieses paradoxe Verhältnis zwischen der Unmöglichkeit des Erzählens einerseits und der Notwendigkeit, das Erlebte in Worte zu bringen, andererseits wird im Ezechielbuch selbst thematisiert, da die Ich-Erzählfigur Ezechiel spricht, obwohl sie von JHWH sprachlos gemacht wurde. Als posttraumatische Phänomene können im Ezechielbuch u. a. die Bewusstseinsveränderungen des Propheten, seine Erstarrung, das Überfallenwerden mit Schreckensbildern, Hyperrealisierungen oder die Rachephantasien verstanden werden. Die Erzählung in ihrer Gesamtheit mit der Abfolge vom Unheil zum Heil wiederum lässt sich als ein literarisch gestalteter Prozess lesen, der durch die Suche nach JHWH als einer rettenden Instanz geleitet wird. Diese Sehnsucht ist sowohl in den Kriegsschilderungen zu greifen, in denen JHWH die Feinde Israels mit leichter Hand besiegt (z. B. Ez 38-39), als auch in den Zukunftsentwürfen mit ihren Heilsverheißungen. Bezeichnend ist, dass im Ezechielbuch die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde alle in ihrer zerstörerischen Form auftreten können, dann am Ende des Buches in ihrer lebensförderlichen Wirksamkeit erscheinen.
Ruth Posers Dissertation eröffnet interessante, neue und überraschende Einsichten in das Ezechielbuch und verhilft zu einem vertieften Verständnis dieses Werkes, das auch die hinter den Texten liegende Erfahrungsdimension von Männern und Frauen in der Grausamkeit von Krieg und Deportation aufscheinen lässt. Die Autorin hat gezeigt, dass der nicht unumstrittene Versuch, die biblische Exegese mit psychologischer Forschung zu verbinden, auf einem hohen Niveau gelingen kann.

Beate Ego (Bochum)

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