Buch des Monats: April 2019

Folkart Wittekind

Theologie religiöser Rede. Ein Grundriss systematischer Theologie.

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. VI, 334 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-156067-5.

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In diesem neuen Grundriss systematischer Theologie geht es Folkart Wittekind darum, protestantische Theologie konsequent als universitäre Disziplin zu konzipieren und entsprechend als Wissenschaft zu bestimmen. Dies geschieht vor dem Hintergrund und in der systematischen Rekonstruktion der Selbstentwicklung protestantischer Theologie unter den Bedingungen der Aufklärung. Diese Entwicklung sieht er bestimmt durch zwei elementare Veränderungen. Die eine besteht in der »funktionale(n) Modernisierung der inhaltlich wahrheitsbezogen vorgehenden Theologie der Aufklärung durch die kritische Installierung eines anthropologischen Religionsbegriffs bei Kant und Schleiermacher« (10). Die zweite liegt in der »reflexive(n) Rückbindung dieses Religionsbegriffs an die Selbstsicht des Glaubens in der Theologie des 20. Jahrhunderts« (10). Mit der ersten Veränderung wird nach Wittekind eine Theologie installiert, »die auf allgemeingültige humane Zustimmung setzt« (10). Das gehe einher mit der Ausdifferenzierung zweier unabhängiger Theologieformen in Gestalt einer Theologie der Frömmigkeit bzw. einer kirchlich orientierten Theologie auf der einen Seite und einer sich im engeren Sinne wissenschaftlich verstehenden Theologie auf der anderen (vgl. 15). Die zweite Veränderung protestantischer Theologie im 20. Jahrhundert schließt nach Wittekinds Rekonstruktion an diese Entwicklung an, wobei nun die Theologie dezidiert als eigene Wissenschaft »neben den sich ausdifferenzierenden Wissenschaften über die Religion (Religionswissenschaft, Religionssoziologie, Religionspsychologie)« (11) etabliert wird. Am »pietistisch-konfessionalistischen Verständnis der kirchlich orientierten Theologie« (16) ändere sich dabei kaum etwas.
Wittekinds Rekonstruktion der protestantischen Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist bestechend und innovativ. Obwohl sie ihm als analytische Grundlage dient, um das protestantische Theologieverständnis seiner eigenen Genese entsprechend in seiner Wissenschaftlichkeit zu Ende zu denken, verdient sie doch auch jenseits dieser Funktion theologiehistorische Beachtung. Gegenüber den in der Theologie des 20. Jh.s zur programmatischen Abhebung vom 19. Jh. entwickelten Deutungsmustern in Gestalt von Anthropozentrismus vs. Theozentrismus bzw. Religionstheologie vs. Offenbarungstheologie bringt Wittekinds Rekonstruktion – für meine Begriffe einleuchtend und erhellend – das Ringen um die Wissenschaftlichkeit der Theologie unter den Bedingungen der Aufklärung als das übergeordnete Thema zur Geltung und vermag so in den Diskontinuitäten die Kontinuität des protestantischen Theologiediskurses aufzuweisen. In seinem eigenen Grundriss knüpft Wittekind an »die Anregung der dialektischen Theologie bzw. der religionsphilosophiekritischen Theologie des 20. Jahrhunderts« (18) an, allerdings nicht unter Verzicht auf den Religionsbegriff, sondern in dessen Neuinterpretation. Religion besteht nach Wittekind »nicht in dem Glauben an Inhalte, wie es für das religiöse Subjekt selbst auf den ersten Blick scheint« (18). Sie entstehe vielmehr »dann, wenn die Inhalte des Glaubens für das Subjekt selbst eine religiöse Bedeutung gewinnen, die ihre Verwendung als religiös rechtfertigt.« (18 f.) Wo dies der Fall ist, seien die Glaubensgehalte als religiöse gemeint (im Unterschied zu ihrer Nennung in politischen, ästhetischen oder ethischen Kontexten) und darin Ausdruck des Glaubensvollzugs. Denn der »Glaube existiert [...] darin, sich auf die religiöse Bedeutung seiner Inhalte einzulassen, darin zu sein und zu leben.« (27) In diesem Verständnis wird die in manchen protestantischen Theologien vollzogene Abgrenzung zwischen Glaube und Religion überwunden.
Die Aufgabe der Systematischen Theologie besteht nach Wittekind in der Konstruktion (nicht Rekonstruktion) der Selbstdurchsichtigkeit des Glaubens, der sich in religiöser Rede artikuliert. Für ihn funktioniert die Theologie als Wissenschaft der Innensicht des Glaubens dann, »wenn sie voraussetzt, dass ein solches Element der identifikatorischen Bestimmung religiöser Rede als religiös in dieser bereits mitgeben ist« (25). Theologie ist in ihrem Bezug auf religiöse Sprache mithin nicht einfach Glaubenswissenschaft, sondern vielmehr »christlich-religiöse Sprachwissenschaft« (24) und kann als hermeneutische Wissenschaft verstanden werden. In ihrem Bezug auf religiöse Sprache funktioniert Theologie als »eine Literaturwissenschaft religiöser Frömmigkeitssprache« (25). Denn sie hat »wie eine Literaturwissenschaft [...] ihre Existenz nur in Bezug auf diese ›Literatur‹, also auf die Äußerungsformen religiös-christlicher Rede« (25). Mit dieser Gegenstandsbestimmung knüpft sein Theologieverständnis an die Wort-Gottes-Theologien im 20. Jahrhundert an. Gegenstand der Theologie ist weder unmittelbar die Selbstoffenbarung Gottes noch das für sich genommen nicht zugängliche Glaubensbewusstsein, sondern die sprachlich artikulierte und damit intersubjektiv zugängliche religiöse Rede, deren »festgelegtes Korpus« (95) die Bibel darstellt.
Ist die Theologie damit von ihrem Gegenstand her genauso Wissenschaft wie andere Literaturwissenschaften, so verlangt Wittekind für ihre Wissenschaftlichkeit zudem, dass »sie bereit ist, sich auf die Auflösung aller inhaltlichen Voraussetzungen einzulassen und ihre eigenen Setzungen als solche – eben eigene – zu erfassen und immer wieder in Frage zu stellen.« (4) Seine theologische Konstruktion der Selbstdurchsichtigkeit des Glaubens hebt mithin darauf ab, diese Auflösbarkeit der inhaltlichen Voraussetzungen des Glaubens zu demonstrieren. Wittekind verwendet hier gezielt nicht den Hegelschen Terminus der Aufhebung, der eine Aufhebung des Religiösen in den theologischen Begriff implizieren würde. Vielmehr hält er gegenüber dieser Dynamik, an der sich weite Teile der Theologie im 20. Jh. abgearbeitet haben, mit seinem Verständnis der Theologie gerade die bleibende Differenz und Selbständigkeit von Religion und Theologie fest. Zugleich markiert er, dass der zwangsläufige dreistellige Zirkel in der Konstruktion christlich-religiöser Rede der Wissenschaftlichkeit der Theologie nicht widerspricht, sondern in der Selbstdurchsichtigkeit des Glaubens gründet, die die Theologie konstruiert und darin den Charakter des Glaubens als unableitbare Setzung erschließt. In diesem Charakter des Glaubens gründet zugleich die Möglichkeit der Auflösung der inhaltlichen Voraussetzungen. Denn nach Wittekind ist der Glaube nicht abzuleiten aus seinen Inhalten, vielmehr sind seine Inhalte Explikation seiner Unableitbarkeit. Der Glaube selbst führe – so Wittekind – »seine eigene Existenz auf die Gnade Gottes zurück und versteht dies zugleich als sprachliche Äußerungsform dafür, dass er selbst als Glaube sich ereignet.« (23) Der Gottesgedanke (und mit ihm der Offenbarungsbegriff) dient nach Wittekind der Artikulation der kategorialen Unableitbarkeit des Glaubens und bildet darum den Ausgangspunkt der materialen Konstruktion religiöser Rede im zweiten Teil des systematischen Grundrisses. Diese ist trinitätstheologisch konzipiert, weil in der religionsgeschichtlichen Entwicklung des Monotheismus im Christentum die »persönlich verantwortete Produktion religiösen Sinns [...] durch das Verkündigungs- und Anredegeschehen in Auftreten, Wirken und Predigen Jesu hervorgerufen« (42) und durch den Heiligen Geist der Gemeinde repräsentiert und missionarisch-kommunikativ weitergegeben wurde und wird. In die Konstruktion der trinitarischen Rede von Gott, Jesus Christus und dem Heiligen Geist integriert Wittekind dabei das Schriftverständnis, die Schöpfungslehre, die Anthropologie und Ekklesiologie. Die Darstellung und Beurteilung dessen, wie dies im Einzelnen geschieht, wird Gegenstand einer ausführlicheren Einzelbesprechung in der ThLZ sein.
Originell ist Wittekinds Grundriss nicht nur in der Rekonstruktion und im Weiterdenken der protestantischen Theologieentwicklung, in der die für diese Entwicklung typischen Polaritäten vermittelt werden und die Unterschiedenheit und Selbständigkeit von Theologie und christlicher Religion begründet wird. Originell und faszinierend ist auch die systematische Anlage und Gliederung in Prolegomena, materiale Theologie und Epilegomena. Dass die Erlösungsbedürftigkeit, Sünden- und Versöhnungslehre und Eschatologie nach dem material-theo-logischen Teil in den Epilegomena verhandelt werden, heißt nicht, dass sie als Anhang zu begreifen wären. Vielmehr geht es in den Epilegomena um die Aufschlüsselung des menschlichen Selbstverständnisses, welches religiöse Rede von Gott durch den Gottesgedanken begründet und vermittelt. Die triadische Struktur, in der schon die Prolegomena in ihrer Erschließung der theologie- und religionstheoretischen Grundbegriffe (Theologie und Wissenschaft, Christentum und Religion, Glaube und Subjekt) gegliedert sind, wird im materialen Teil jeweils für Gotteslehre, Christologie und Pneumatologie und sodann in den Epilegomena fortgeführt. Dabei ist sie aber nicht als abstrakte Struktur, sondern aus den Themen heraus entwickelt.
Zwei Fragen seien abschließend an diese beeindruckend schlüssige Konstruktion christlich-religiöser Rede als Artikulation der Unableitbarkeit und Selbstdurchsichtigkeit des Glaubens gestellt. Die eine betrifft das Wissenschaftsverständnis. Die Wissenschaftlichkeit der Theologie impliziert für Wittekind Allgemeingültigkeit und damit die Auflösung inhaltlicher Voraussetzungen, die außertheologisch nicht begründet erscheinen. Hier wäre m. E. eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Kriterien anderer Disziplinen angezeigt. Denn es könnte sein, dass der Wissenschaftsanspruch, den Wittekind für die Theologie anlegt und in seiner Konstruktion religiöser Rede durchführt, anderen Wissenschaften an der Universität eher hermetisch erscheint und darum für sie aufgeschlüsselt werden müsste. Die zweite Frage betrifft das Verständnis der religiösen Sprache. Wittekind vertritt die These, dass die Sprache und die Symbole christlich-religiöser Rede »nicht nur Ausdrucksformen und Zeichen für eine hinter ihnen liegende Wirklichkeit (Gottes oder des Glaubenssubjektes)« (73) seien. »Vielmehr sind die Symbole oder Zeichen der alleinige Ort, an dem diese ‚Wirklichkeiten‘ gegeben sind. Religiöse Sprache ist nicht Mitteilung von Sachverhalten außerhalb der Rede, sondern sie macht auf sich selbst als Ort der Herstellung für die Geltung und Existenz der Sachverhalte aufmerksam.« (73) Hier wäre m. E. weiter zu fragen, inwieweit die Herstellung von Geltung in religiöser Rede davon abhängt, dass sie Mitteilung von Sachverhalten als Sachverhalte enthält. Wäre es damit Teil der Aufgabe hermeneutischer Konstruktion religiöser Rede, diese Dimension in der Analyse der biblischen Texte, deren Gebrauch nach Wittekind »zum inneren Bestandteil des Glaubens« (97) gehört, konkret und in exegetischer Manier zu berücksichtigen? Und könnte sich auf diese Weise zeigen, dass religiöse Rede zwar um ihre Bedeutung für die Konstitution des Glaubens weiß, aber sich im Rückverweis auf Sachverhalte nicht als Grund ihrer selbst zu verstehen gibt?

Friederike Nüssel, Heidelberg

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