Buch des Monats: April 2015

Kunz, Ralph, u. Thomas Schlag [Hrsg.]

Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft 2014. 537 S. EUR 38,00. ISBN 978-3-7887-2839-7

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Nachdem in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem Begriff „Gemeindeaufbau“ vor allem Fragen der missionarischen Ausrichtung von Gemeinde diskutiert wurden, hat sich das Diskussionsspektrum seit der Jahrtausendwende verbreitert. In vielfältiger Weise werden heute Fragen der Kirchen- und Gemeindeentwicklung erörtert, so dass auch für kirchentheoretisch Engagierte der Überblick verloren zu gehen droht. In dieser Situation ist das von den beiden Zürcher Praktischen Theologen initiierte Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung in mehrfacher Hinsicht ein Glücksfall. „Das Ziel dieses Handbuches ist es, angesichts einer sich dynamisch verändernden Kirchen- und Gemeindewirklichkeit zentrale Problemstellungen protestantischer Ekklesiologie zu identifizieren, gegenwärtige Forschungseinsichten zu präsentieren und auf diesem Hintergrund Entwicklungsperspektiven für verschiedene Handlungsfelder von Kirche und Gemeinde aufzuzeigen.“ (9) Nach der Lektüre des gewichtigen Bandes ist zu konstatieren, dass dieses ehrgeizige Ziel in vollem Umfang eingelöst wird. Die institutionelle Basis dafür stellt das seit 2010 bestehende Zürcher Zentrum für Kirchenentwicklung (ZKE) dar, dem die beiden Herausgeber in leitender Funktion angehören und dessen Mitglieder alle durch Beiträge vertreten sind. Dadurch wird der Horizont von der meist üblichen Beschränkung auf Deutschland zumindest durch Bezüge auf die Schweiz hin erweitert. Dazu treten noch wiederholte Hinweise vor allem auf die „Fresh Expressions“ in England, aber auch die Reform in der katholischen Erzdiözese Poitou-Charente.
Schon editorisch ist der Band eine Meisterleistung. Die klare Gliederung jedes Beitrags ergibt eine leserfreundliche Einheitlichkeit – bei insgesamt 58 Autorinnen und Autoren. In einem ersten Teil wird jeweils zum Thema informiert. Es folgen „Interpretationen“, die in der Regel durch zwei Praxisbeispiele eingeleitet werden. Abschließend werden Ausblicke auf Innovationen bzw. Aufgaben gegeben, wobei auch ein Blick Forschungsdesideraten gilt.
Systematisch ist der Band in acht Themenbereiche gegliedert. Unter der Überschrift „Entwicklungslinien“ versammeln sich Einsichten der unterschiedlichen theologischen Disziplinen zum Thema, wobei erfreulicher Weise auch die kirchenrechtliche Perspektive eigens vertreten ist. Ein Glanzlicht stellt hier der Beitrag von Stefan Huber „Religions- und kirchensoziologische Perspektiven“ dar. Er führt in übersichtlicher Weise die Differenzen gegenwärtiger religions- und kirchensoziologischer Forschung auf drei grundlegende Forschungsansätze zurück und diskutiert deren jeweiligen Stärken und Schwächen. Im Teil „Erhebungen“ finden sich wichtige empirische Befunde. Dabei zeigt sich, dass das EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ (2006) einen wesentlichen Bezugspunkt der gegenwärtigen Diskussion darstellt, allerdings vor allem in kritischer Abgrenzung. Im Teil „Einordnungen“ werden übersichtlich wesentliche kirchentheoretische Positionen vorgestellt. Die Stichworte „Volkskirche“, „Kirche als Institution und Organisation“, „Öffentliche Kirche“, „Kirche als Ort der Religion“ und „Kirche bei neuen Gelegenheiten“, jeweils von profilierten Fachvertreter/innen vorgestellt, markieren die große positionelle Weite des Handbuchs. Es folgt ein Teil „Entfaltungsbereiche“, in dem der Fokus auf dem Zusammenhang herkömmlich praktisch-theologischer Themen wie „Seelsorge“, „Predigt“ oder „Bildung“ mit der Kirchen- und Gemeindeentwicklung liegt. Ein weiterer Durchgang gilt „Erscheinungsformen“, die von der „Kasualgemeinde“ über Fragen der „Kooperation und Fusion von Gemeinden“ bis zu „Profilgemeinden“ reichen. Auch die neue Inklusions-Diskussion wird hier in einem Beitrag thematisiert. Es folgen „Einsatzbereiche“: von „Akademie-Gemeinden“ über „Jugendkirchen“ bis hin zu „Kirchenräumen“. In seinem Beitrag zu „Musik in Kirche und Gemeinde“ zeigt z.B. Peter Bubmann, dass die mancherorts noch umstrittene Regionalisierung kirchlicher Arbeit im Bereich der Kirchenmusik bereits seit Jahrzehnten selbstverständlich – und erfolgreich – praktiziert wird. Im nächsten Teil „Entgrenzungen“ werden u.a. „Gemeinde in Netzwerken“ oder „Migrationskirchen“ vorgestellt. Leser und Leserinnen in kirchenleitender Funktion sollten hier den Beitrag von Sabine Hermisson zu „Spiritualität“ studieren. Sie zeigt, dass die in kirchlichen Papieren und Programmen vollzogene Funktionalisierung von „Spiritualität“ in Hinsicht auf Kirchen- und Gemeindeentwicklung deren Eigenlogik als darstellendes (und nicht wirksames) Handeln diametral widerspricht. Schließlich folgen „Ermöglichungen“, in denen gute Überblicke u.a. über „Organisationsentwicklung“ sowie diverse Aus-, Fort- und Weiterbildungen gegeben werden. Ein zentrales Thema skizziert dabei mit „Öffentlichkeits- und Medienarbeit“ Johanna Haberer. Am Beispiel der Lutherkampagne macht sie unpolemisch, aber präzise auf deren gravierendes konzeptionelles Problem aufmerksam: „Diese Kampagne spiegelt eine Kirche die – ihrem reformatorischen Anspruch widersprechend – die Öffentlichkeit weniger am Diskurs beteiligen als sie vielmehr von oben steuernd penetrieren will.“ (511)
Insgesamt enthalten die 57 Artikel dieses Handbuch zuverlässige Informationen und vielfältige Praxisbeispiele zur gegenwärtigen Entwicklung vor allem in den deutschen und deutsch-schweizerischen Landeskirchen und deren Gemeinden. Dazu bietet es wichtige Unterscheidungen und Kriterien, um die vor uns liegenden Aufgaben der Kirchen- und Gemeindeentwicklung praktisch-theologisch angemessen zu bearbeiten. Allein ein stärkerer Blick zu anderen Konfessionen könnte hier noch weiterführen.

Christian Grethlein

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