Buch des Monats: November 2018

Roger Jensen

Weit offene Augen. Pilgern gestern und heute.

V & R: Göttingen 2018. 261 S. m. 20 Abb. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-8471-0843-6.

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Die alte geistliche Praktik des Pilgerns erfreut sich in den letzten Jahren wieder einer wachsenden Beliebtheit. Auch unter Protestanten verzeichnet sie einen regelrechten Boom. Zur Popularität des Pilgerns hat im deutschen Sprachraum wohl auch der 2006 erschienene Erlebnisbericht »Ich bin dann mal weg« von Hape Kerkeling beigetragen. Wer sich nun aber vor allem für die Hintergründe des spirituellen Wanderns interessiert, bekommt mit »Weit offene Augen« von Roger Jensen eine gut verständliche Grundlage. Das Buch enthält Kapitel, die sich für die Vorbereitung einer Pilgerreise oder zur eigenen Horizonterweiterung eignen, es lässt sich als Lektüre für einen Kurs in der Erwachsenenbildung verwenden und man kann es auch als Studie lesen, die einen originellen Beitrag zum wissenschaftlichen Gespräch liefert. Die profunden Kenntnisse der Materie und der theologische Gehalt zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema. Roger Jensen ist nicht nur Pilger-Pastor in Oslo. Er ist auch Privatdozent an der Theologischen Fakultät und beschäftigt sich seit Jahren mit der Pilgerforschung. Im Aufbau des Buches spiegelt sich der berufliche Mix sehr schön wider. Einige persönliche Pilgererzählungen machen den Auftakt: Man begleitet den Autor auf seinem Weg nach Santiago de Compostela, Rom, Jerusalem und auf dem Olavsweg in Norwegen. Letzterer könnte auf den »Camino« fixierte Pilgerfans dazu ermuntern, sich dem Charme der nordischen Wildnis auszusetzen und das einsame Pilgern auszutesten.
Im nachfolgenden Kapitel ist von sozialwissenschaftlichen Pilgerstudien die Rede. Hier schreibt Jensen als Wissenschaftler, der erklärt, referiert und seine Schlüsse zieht. Wer sich schon mit der Forschung auseinandergesetzt hat, erfährt nichts Neues. Dafür bekommt man eine gute Zusammenfassung geboten. Er lernt etwas über Pilgeridealtypen (Sport-, Natur- und Religionspilger) und wie sich das Leben auf dem Pilgerweg und die Entsprechung von äußerer und innerer Bewegung psychologisch und spirituell deuten lassen. Kompaktes und solide recherchiertes Wissen wird auch zum spätantiken und mittelalterlichen Pilgerwesen vermittelt. Jensen gelingt es, die wichtigsten Fakten übersichtlich und verständlich zu referieren und er bietet zugleich unterhaltsame Lektüre. Die eindrückliche Schilderung der Krise des Pilgerwesens macht deutlich, dass der reformatorischen Kritik eine Entwicklung vorausgegangen ist und sie nicht isoliert betrachtet werden darf. Tatsache ist, dass es zu einem Bruch mit dem Ritus der Wallfahrt (u. a. Formen der Prozessionsfrömmigkeit) gekommen ist.
Trotz des Hypes gibt es immer noch erstaunlich wenige evangelische Studien zum Thema. Natürlich hat es mit diesem Traditionsabbruch zu tun. Aber nach der Renaissance der Praxis könnte das Interesse der Theologie etwas reger sein. Möglicherweise sind die alten konfessionellen Vorbehalte daran schuld. Denn bei aller Freude am spirituellen Wandern fragt sich der kritische Protestant: Führen die Pilgerwege – im Norden oder im Süden – nicht doch wie alle Wege nach Rom? Lauert und leiert da nicht das alte Lied der Werkgerechtigkeit? Genau hier setzen die originellen theologischen Kapitel des Buches an. Allein die vielen markigen Zitate Martin Luthers, bei dem sich der Autor Rat holt, lohnen die Lektüre.
Den Anstoß zur Spurensuche gab eine dezidierte Äußerung von dem fälschlicherweise als Kirchengeschichtler (130) bezeichneten Leipziger Praktischen Theologen Peter Zimmerling in der Zeitschrift Loccumer Protokolle (2/2005, 54). Auf die Frage, ob das Pilgern ein Heimatrecht in der lutherischen Spiritualität habe, skizziert Zimmerling das Bild einer auf Jesus Christus konzentrierten, schriftbezogenen Frömmigkeit, die die Rechtfertigung allein aus Glauben betont. Das gottgewollte Leben spiele sich nicht in einem Sonderbereich ab. Familie und Beruf sind die Orte, an denen sich der Glaube bewähre. Für Zimmerling ist die weltliche Ausrichtung des Glaubens, die eine Unterscheidung von sakral und profan relativiert, ein konstitutives Merkmal des Luthertums und mithin eine Veränderung der geistigen Landschaft, die für die Entwicklung der großen europäischen Freiheitsbewegungen förderlich war. Aufgrund dieser Skizzierung, so meint Zimmerling, könne die Frage kurz und bündig beantwortet werden: Pilgern hat in der traditionellen lutherischen Spiritualität kein Heimatrecht.
Es versteht sich von selbst, dass diese Aussage den lutherischen Pilger-Pastor zu einer Antwort reizt: »Als neuer Beitrag zur Forschung analysieren wir […] Luthers breites Interesse und Kritik am Pilgerwesen genauer, um die Frage beantworten zu können, inwieweit Zimmerling mit seiner Behauptung recht hat.« (131)
Die erste Einsicht, die Jensen gewinnt: Die reformatorische Kritik am Pilgerwesen ist differenzierter als man meinen könnte. Sie richtet sich nicht gegen das Ansinnen der geistlichen Übung an sich. Kritisiert wurde vielmehr der Irrglaube, dass den Knochen eines Heiligen religiöse Kraft zukomme. Der humanistische Einfluss, der für einen Bildungsoptimismus sorgte, verstärkte das Misstrauen gegen die magischen Dimensionen der Volksfrömmigkeit. Aber schon im hohen Mittelalter waren insbesondere die Verbindung von Reliquienhandel und Ablass ein Grund heftiger Polemik. Luther steht in dieser Tradition und bringt den religiösen Widersinn des Aberglaubens schön auf den Punkt, wenn er sinngemäß fragt: Was bitte soll der Besuch eines toten Märtyrers für das Seelenheil abtragen? Ist nicht der Nächste eine lebendige Reliquie? (162 ff.) Ist Gott nicht überall und nicht nur an einem bestimmten Ort zu finden? (167 ff.) Jensen wendet diese Kritik konstruktiv. Was den Protestantismus auszeichne – die Betonung der Freiheit des Glaubens, die auf die unverdiente Gnade gründet – zeige sich auch positiv: im Vertrauen auf die Wahrnehmungen des Körpers, der Natur und der Kultur. Zimmerlings Einwand, dass sich evangelische Weltbejahung und die geistliche Praktik, die in die Natur hineinwandert, ausschließe, lässt Jensen nicht gelten. Luthers Lehre von der Allgegenwart Christi lasse sich auch so deuten: Wer mit »offenen Augen« durch die Welt geht, könne Gott erleben. Letztlich sei es die Schöpfungsgnade, die das Pilgern zur religiösen Erfahrung werden lasse. Für eine Revision des negativen Vorurteils spreche auch die performative Wende (179–195). Ihre theologische Würdigung kann bei Luthers differenziertem Verständnis der Bilder und ihrem religiösen Gebrauch ansetzen. Im Zusammenhang des Pilgerwesens ist insbesondere die Beobachtung wichtig, dass der für das Pilgern konstitutive heilige Ort als solcher nicht verschwunden ist, sondern durch individuelle und kollektive Interaktion von physischem Raum und menschlicher Subjektivität, Reflexion und Praxis entsteht (191). Für deutsche Leserinnen und Leser ist die theologische Argumentation interessant, weil Jensen immer wieder Bezug nimmt auf die skandinavische Schöpfungstheologie. Das Buch könnte auch ein Anlass sein, sich mit der (lutherischen) Theologie aus dem Norden zu beschäftigen. Genannt werden namentlich K. E. Løgstrup, Regin Prenter, Gustav Wingren, Inge Lønning und Svein Aage Christofferson. Zentral ist der Gedanke der doppelten phänomenologischen Orientierung (Wingren). Die (gefallene) Schöpfung ist nicht nur Ausgangspunkt und Sprungbrett für die Erlösung; sie hat als gute Schöpfung einen Eigenwert und einen Eigensinn und ist in ihrer Schönheit Ausdruck von Gottes Güte und Fürsorge.
Dem Autor in den letzten Wegstrecken des Buches zu folgen, verlangt einiges an Durchhaltevermögen. Er versucht die Einsichten aus den sozialwissenschaftlichen, historischen und theologischen Überlegungen zu bündeln. Das Grundproblem, das er wahrnimmt, wird hermeneutisch konturiert. Wie wird die Rede von Gott mit einer Sinnerfahrung verbunden, die von den einen religiös und von anderen spirituell gedeutet wird? Welche Hilfe geben die traditionellen Texte der Kirche, um Religion in einer posttraditionellen Gesellschaft zu deuten? Jensen plädiert für einen phänomensensiblen und zugleich beherzt theologischen Zugang. Das ist erfrischend! Im Schlusskapitel konkretisiert sich der Ansatz im Versuch, über die Lektüre von Luthers Kleinem Katechismus wiederkehrende Motive für die Deutung der Pilgererfahrung zu gewinnen (217–233). Jensen unterscheidet »fürchten« und »lieben« als religiöse Basismotive, das Vertrauen, das ethische Handeln und die dem Glauben immanente Weisheitskritik. Die Relecture ist also höchst fruchtbar. Man ist allerdings geneigt zu fragen, ob die gefundenen Deutungskategorien ein viel weiteres Erfahrungsfeld abdecken als das des Pilgerns. Was für das geistliche Wandern und die darin erlebte Gemeinschaft unterwegs zutrifft, stimmt jedenfalls auch für das anspruchsvolle Leben am Ort und vor Ort. Ob man die »Pilger als Wegbereiter zu einer neuen Spiritualität« (242) emporstilisieren soll, wie Jensen zum Schluss vorschlägt, ist – bei aller Sympathie für das Anliegen – dann doch eher fraglich. Geschichtlich betrachtet haben diejenigen, die geduldig das Erbe hüten und die stabilitas loci leben, genauso viel zur Erneuerung der Tradition beigetragen.

Ralph Kunz (Zürich)

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