Buch des Monats: September 2011

Gauck, Joachim

Winter im Sommer – Frühling im Herbst.

Siedler: München 2009. 352 S. m. 20 s/w Abb. 13,5 x 21,5 cm. Lw. m. SU. EUR [D] 22,95. ISBN 978-3-88680-935-6.

Dass eine durch Alter und aufreibende Diskussionen ergraute und verschlissen erscheinende theologische Theorie wie die Zwei-Reiche-Lehre eine zwar späte, aber umso eindrücklichere Rechtfertigung und plausible Anwendung erfährt, bezeugt dieses Buch. Man liest es gern, es ist zuweilen richtig aufregend. Dann legt man es in vieler Hinsicht nachdenklich geworden aus der Hand – um es erneut aufzuschlagen. Leider fehlt ein Namensindex, den muss man sich selbst schaffen. Das Buch ist alles andere als das, was man heute im Bereich der Ethik gern als „Fallstudie“ bezeichnen würde, und doch wird ein Lebensschicksal mit Höhen und Tiefen bekannt gemacht, das dem Leser weder etwas verschleiert noch sich ihm anbiedert, das weder das gelebte Leben noch die geübte Reflexion zu kurz kommen lässt.
Man ist – wie könnte es bei „Erinnerungen“ auch anders sein – immer ganz nahe an den autobiographischen Details und den dienstlichen Obliegenheiten; so erfahren die Leser ganz Persönliches zu Gaucks Familie im weiteren und im engeren Sinn, zu seinem Weg unter den Bedingungen eines diktatorischen Regimes, aber auch etwa zu dem damaligen mecklenburgischen Landesbischof Heinrich Rathke. Aber da scheut sich einer überhaupt nicht, eigene Fehler, Fehler von nahen Anverwandten oder Fehler seiner Kirche einzugestehen, und das mit einer immer angenehmen Portion Selbstironie. Das befreiend wirkende Element, das sich auch auf die Leserschaft überträgt, ist die ergriffene Freiheit des Glaubens. Ob es um die Beurteilung der Extrempole der fünfziger Jahre geht – prinzipieller Antikommunismus Otto Dibelius‘, pro-sozialistische Haltung Karl Barths – oder ob es um jene oft gebrauchte, aber nicht immer geglückte Einstellung handelt, die Systemnähe grundsätzlich mied, ohne in Verweigerung zu verfallen (Rathke), eine „Form des Realismus, der sich auf Kompromisse einlassen konnte, ohne sich zu verkaufen“ (144), alles das führt Gauck an seinem eigenen Leben und Erleben vor, ohne je in eine belehrende Haltung zu verfallen. Auch nachträglich erschließt sich der Wert eines ganz selbständigen Nachdenkens zu dem umstrittenen Begriff der „Kirche im Sozialismus“, erschließt sich die oft geübte Nähe zu einem gewissen „linken Denken“ aus dem Westen, aber auch zu erfahrener Entfremdung zwischen Ost und West. Bei allem kritischen Nachdenken verfällt Gauck nie in anklagende oder gar in selbstgerechte Äußerungen. Das macht den Band bei aller Sachlichkeit und aller persönlichen Größe durchweg sympathisch.
Die eigene Erfahrung der Freiheit 1989/90 korrespondierte mit der an ihn herangetragenen Aufgabe freiheitlich-demokratischer und rechtsstaatlicher Aufarbeitung der Vergangenheit einschließlich noch andauernder Gegenwart als „Sonderbeauftragter für die Stasi-Unterlagen“ – eindrücklich der kurze Bericht zum Empfang der Ernennungsurkunde am 2.10.1990 (246 f.).
Es gibt inzwischen sehr viele Erinnerungsbände, Biographien und Berichte zur DDR-Erfahrungen und zur Erfahrung von ehemaligen DDR-Bürgern nach der Friedlichen Revolution. In den allermeisten geht es um die Legitimation von Gewesenem und um den Protest gegen Gewesenes. Da zeigt sich in der Regel ein sehr „menschliches“ Anliegen. Wer dieser Art von Erinnerung entgehen will, wer wissen will, wie Menschen in der DDR lebten, wie Christen und evangelisch-lutherische Kirchen unter den Bedingungen des DDR-Sozialismus existierten, wie sie ihre eigene Lage wahrnahmen, wie sie überlebten und wie sie aus der Rückschau dieses System sehen und mit dieser Rückschau bis heute umgehen, der wird mit diesem Buch einer ernstzunehmenden und wahrhaftigen Stimme begegnen, einer Stimme, die ohne Schwierigkeit das zu leisten vermag, was inzwischen im Schulunterricht und in Geschichtsbüchern deutscher Gegenwart schmerzlich vermisst wird.

Martin Petzoldt (Leipzig)

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