Buch des Monats: Juni 2023

Avis, Paul

Reconciling Theology.

London: SCM Press 2022. 256 S. Kart. GB£ 30,00. ISBN 9780334061380.

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Im Kontext der modernen Ökumenischen Bewegung sind zwar insbesondere im deutschsprachigen Bereich einige ökumenische Theologien entstanden, doch die Frage nach Grund, Gegenstand und Aufgabe ökumenischer Theologie stand und steht gegenüber der Debatte über einzelne Themen wie Gnade und Rechtfertigung, Sakramente und Amt, Schrift und Tradition und ethischen Fragen im Hintergrund. Das Buch von Paul Avis, der Ökumeniker*innen als Generalsekretär des Einheitsrates der Church of England (1998–2011) und als Systematiker anglikanischer Theologie bekannt ist, widmet sich unter dem Titel »Reconciling Theology« programmatisch der Aufgabe, eine ökumenische Theologie systematisch zu begründen. Der englische Titel ist in seiner Doppeldeutigkeit bewusst gewählt (vgl. IX). Denn Avis möchte zum einen eine Theologie entwickeln, die sich auf die Wirklichkeit der Kirche bezieht und der Versöhnung der Kirchen dienen soll. Zum anderen kann eine solche Theologie ein versöhnendes Potential im Verhältnis zur kirchlichen Wirklichkeit nur entfalten, wenn sie auf der Ebene der Theologie selbst anfängt und ihrerseits Theologien zu versöhnen vermag. Der Ansatz von Avis ist somit schon deshalb interessant, weil er gegenüber den verschiedenen Theologiekonzeptionen gerade im deutschsprachigen Protestantismus, die den Bezugspunkt der Theologie in der Kirche sehen (programmatisch zuerst Friedrich Schleiermacher, später bei Albrecht Ritschl und Karl Barth), Kirche und Theologie zum Gegenstand und Aufgabenfeld erhebt.

Avis versteht unter Kirche die Gemeinschaft des Leibes Jesu Christi, die aus der Verkündigung des Evangeliums in Wort und Sakrament im gemeinsamen Glauben lebt und in Wort, Sakrament, Amt und Ordnung sichtbar bzw. erfahrbar ist. Sein versöhnungstheologisch fundiertes Kirchenverständnis zielt nicht darauf ab, die Grenzen von Kirche zu markieren und festzulegen, wo man es mit Kirche zu tun hat und wo nicht. Vielmehr geht es Avis darum, die konstitutive und unhintergehbare Bedeutung kirchlicher Gemeinschaft für den christlichen Glauben herauszustellen. Das lässt sich etwa in seiner kritischen Sicht auf eine exklusivistische Lesart des römisch-katholischen Kirchenverständnisses ablesen, der er bewusst ein Selbstverständnis der Kirchen der Anglikanischen Gemeinschaft gegenüberstellt, wonach diese sich als Teil der Kirche Jesu Christi verstehen.

Die Notwendigkeit einer versöhnenden Theologie in Bezug auf die Wirklichkeit kirchlichen Lebens ergibt sich, wie Avis bereits im Vorwort verdeutlicht, aus einer dreifachen Unversöhntheit der Kirche: der Unversöhntheit mit sich selbst, der Unversöhntheit im Verhältnis zur Welt und der Unversöhntheit im Verhältnis zu Gott. In sich selbst unversöhnt ist die Kirche, weil sie zersplittert ist und fehlgeht. Im Verhältnis zur Welt ist sie unversöhnt, weil ihr mit Misstrauen und Ablehnung begegnet wird. Im Verhältnis zu Gott ist sie unversöhnt, weil sie uneins ist und moralischer Integrität entbehrt (vgl. X). Die elementare Orientierungskategorie für eine Theologie der Versöhnung, die die Unversöhntheit der Kirche kritisch-konstruktiv reflektiert, ist demgegenüber die Liebe Gottes, wie Avis bereits im Vorwort andeutet. Als Dispositionen einer Theologie der Versöhnung werden schon hier der Sinn für die Zugehörigkeit zum Leib Christi und der darin gründenden Zusammengehörigkeit, die Grundhaltung der Anerkennung anderer in ihrem Christsein und ihrer Zugehörigkeit zum Leib Christi und die Offenheit und Empfänglichkeit für andere genannt. Diese ökumenische Disposition hat ihren Grund im Versöhnungswerk Gottes in Jesus Christus, das Grund menschlicher Versöhnung ist. Die entsprechende Theologie der Versöhnung wird im achten und letzten Kapitel des Buches unter dem Titel »Envisioning a Reconciled and Reconciling Community« (196–238) ausgeführt und bildet den Grund- und Zielpunkt der gesamten Argumentation. Hier vertritt Avis die These, dass die Wahrheit des Glaubens und das Wesen des Christentums in der in Jesus Christus offenbarten und begründeten Versöhnung bestehen. Entsprechend zielen die Ausführungen darauf zu entfalten, dass (1) der »God of the Bible and of Christian theology is above all a reconciling God« (196), dass (2) Gottes Versöhnungshandeln die Geschichte im Ganzen bestimmt, (3) sich dies in besonderer Weise in Gottesdienst, Zeugnis und Verkündigung der Kirche vollzieht und daher (4) jede Aktivität der Kirche in dieser Versöhnung nicht nur ihren Ursprung hat, sondern diese auch widerspiegeln sollte. Den Grund der Theologie der Versöhnung entschlüsselt Avis in einer Auslegung des neutestamentlichen Verständnisses der Versöhnung, in der er mit James D. G. Dunn und Ralph Martin den Begriff der Versöhnung als Zentrum der paulinischen Theologie zum Zuge bringt, welches die Rechtfertigungsthematik umgreift. Zugleich stellt er – im Einklang mit den neuzeitlichen Erkenntnissen in der Versöhnungslehre – klar, dass nach Paulus die Versöhnung von Gott gestiftet wird, Gott also nicht selbst der Versöhnung durch ein Sühnopfer bedarf, sondern vielmehr den Menschen durch die Hingabe seines Sohnes mit sich versöhnt. Dass es dabei in der so begründeten Versöhnung des Menschen mit Gott nicht nur um ein individuelles Geschehen, sondern vielmehr um die Konstitution einer aus der Versöhnung lebenden Gemeinschaft geht, erklärt Avis im Rekurs auf die Entwicklung evangelischer Versöhnungslehre. In knappen und präzisen Analysen zeigt er, wie ausgehend von Friedrich Schleiermachers Erlösungslehre die Bedeutung der Gemeinschaft für die Konstitution der Erlösung in kritischem Weiterdenken bei Albrecht Ritschl, Karl Barth und Wolfhart Pannenberg (206–225) entfaltet worden ist. Am Rande wird dabei auch deutlich, wie sehr Karl Barths theologische Konzeption und insbesondere seine Versöhnungslehre in der Linie von Schleiermacher und Ritschl steht (vgl. bes. 210) und in diesem Zusammenhang von Pannenberg weitergeführt wird. In der Rekonstruktion der genannten Positionen arbeitet Avis nicht nur die Bindung des Versöhnungsgeschehen an die Konstitution christlicher Gemeinschaft heraus, sondern zeigt zugleich, wie in dieser Linie theologischen Denkens – besonders pointiert in Barths Reformulierung der chalcedonensischen Christologie – die Person Jesu Christi als Ort der Versöhnung zwischen Gott und Mensch begriffen wird: »It is a fact and reality in him and all who are ›in him‹ – that is, the Christian community, the church – are brought into reconciled relationship with God« (212). Wo diese Einsicht theologisch zur Klarheit gebracht ist, lässt sich die Frage nicht abtun oder abweisen: »How can Christians and churches remain separated and alienated from one another when their very existence is one of having been reconciled to God in the body of his Son which has passed through life, death and resurrection?« (212, Hervorhebung FN).

Dem versöhnungstheologischen Schlusskapitel gehen sieben Kapitel voran, die in der Rekonstruktion der ökumenischen Debattenlagen nicht nur die Notwendigkeit einer versöhnenden Theologie begründen, sondern darin selbst schon einen versöhnenden Weg einschlagen. Im ersten Kapitel adressiert Avis zunächst die Skepsis und kritische Sicht auf Ökumene und ökumenische Bewegung, die sich vermehrt um die Jahrtausendwende breit gemacht hat. Avis hebt hier zum einen die methodologischen Kriterien und Errungenschaften der Dialogbewegung heraus und betont, dass das Fehlen sichtbarer Einheit in eucharistischer Gemeinschaft ein Zeichen der Unversöhntheit und Verwundung der Kirche bedeutet. Zum anderen vertritt er gegenüber allen, die die Uneinigkeit der Kirchen als deren Realität anzusehen und anzunehmen geneigt sind, programmatisch die These: »It is disunity that is unreal« (17). Im zweiten Kapitel setzt er sich mit dem Phänomen des Denominationalismus und insbesondere der Position von Russell Richey auseinander und verdeutlicht, dass und warum sich Kirchen wie die Anglikanischen Kirchen nicht auf ein denominationalistisches Selbstverständnis verlegen können. Das dritte Kapitel ist dem Zweiten Vatikanischen Konzil und dem Eintritt der römisch-katholischen Kirche in die Ökumenische Bewegung gewidmet. Hier arbeitet Avis den umstrittenen Charakter heraus, der sich in den entgegengesetzten Einschätzungen »Vatican II changed nothing« (58–66) und »Vatican II changed everything« (67–74) zeigt. Wenngleich sich Avis in Kritik an einem exklusivistischen Kirchenverständnis und an der Ignoranz gegenüber moralischem Versagen insbesondere in Sachen Missbrauch übt, ist ihm an einer ausgleichenden Bewertung des Konzils anhand der »two principles of action – aggiornamento and ressourcement« (74) gelegen. Das folgende vierte Kapitel thematisiert den Zusammenhang von Kirchenverständnis und Kirchenordnung als ein Zentralthema kirchlicher Polemik. Die Stoßrichtung ist hier nicht das Verhältnis zu den protestantischen Kirchen, sondern vielmehr das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche. Die Entwicklungen unter Papst Franziskus einerseits und in der Church of England andererseits wertet Avis als Zeichen für einen »rewarding interdisciplinary task ahead of us« (105), um über Ordnungsfragen im Lichte von Wesen und Sendung der Kirche nachzudenken. Dass die Unversöhntheit und Trennungen der Kirchen unter anderem in Ordnungsfragen dem Wesen der Kirche als Vorzeichen des Reiches Gottes widersprechen, ist Thema des fünften Kapitels. Daran schließt sich die Frage an, wie sich die Unversöhntheit und Verwundung der Kirche überwinden lässt, die Avis im sechsten Kapitel erörtert. Im Abschnitt über »Avenues of reconciliation« (135–145) präsentiert und kommentiert er sehr erhellend ein exemplarisches Spektrum verschiedener Ansätze zur Diversität.

Nachdem Avis in den genannten Kapiteln die Notwendigkeit der Überwindung von Trennungen in einer kritischen Sichtung der großen ökumenischen Themenfelder konkretisiert hat, erklärt er im siebten Kapitel wechselseitige Anerkennung als »Gateway to Reconciliation« (159). Die Bedeutung von Anerkennung wird hier zuerst sozialwissenschaftlich, philosophisch und literarisch (am Beispiel von Thomas Manns Trilogie Joseph und seine Brüder) illustriert sowie biblisch fundiert. Es folgt eine theologische Interpretation der Bedeutung von Anerkennung für das Personsein des Menschen, die Auslegung der Gnade Gottes als Anerkennung und die Bedeutung für das Selbst-, Gottes- und Weltverhältnis des Menschen. Dabei tritt die Angewiesenheit des Menschen auf versöhnte Gemeinschaft vor Augen, auf die die Aufschlüsselung des göttlichen Versöhnungshandelns im Schlusskapitel antwortet.

Wer wie ich Paul Avis aus den Debatten der Theologischen Konferenz zwischen Church of England und Evangelischer Kirche in Deutschland im Meissen-Prozess kennt, wird bei der Lektüre des Buches vermutlich das Thema der historischen apostolischen Sukzession im Bischofsamt im Hinterkopf haben. Die Bedeutung dieses Themas für anglikanisches Einheitsverständnis und anglikanische Identität hat Avis in zahlreichen Publikationen nachdrücklich betont und erklärt. Bis heute ist die Frage der vollen, sichtbaren Einheit in der Meissen-Gemeinschaft keiner vollständigen Klärung zugeführt worden, auch wenn man hoffen kann, dass in der zur Rezeption anstehenden Verständigung zwischen der US-amerikanischen Episkopalkirche und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern ein Weg modelliert worden ist. In seiner »Reconciling Theology« erwähnt Avis den Meissen-Prozess allerdings nicht unter dieser Frage, sondern nennt ihn vielmehr als Beispiel dafür, dass Anerkennung ein »gateway« zur Versöhnung ist. Avis geht es in seinem Buch nicht um die Konditionen sichtbarer Einheit, sondern um die ökumenische Vision der Kirche als einer »reconciled and reconciling community«. Wichtiger als die Frage nach der vollen sichtbaren Einheit im historischen Bischofsamt ist das Eintreten für eine Theologie der Versöhnung, die sich auch in Zukunft für die Überwindung der Trennungen zwischen den Kirchen einsetzt. Auch wenn Rivalitäten, Ausgrenzungen, Verleumdungen und Feindseligkeiten zwischen christlichen Kirchen heute eingedämmt erscheinen, legitimiert dies nicht eine Haltung der Indifferenz gegenüber weiterhin existierenden kirchentrennenden Unterschieden. Das Buch von Avis zeigt, dass und warum sich theologische Reflexion auf die biblische Versöhnungsbotschaft nicht mit den bestehenden Trennungen der Kirchen abfinden kann, sondern die Fäden der Ökumenischen Bewegung konstruktiv weiterspinnen muss, um dem Versöhnungshandeln Gottes in Christus zu entsprechen. Neben diesem klaren, theologisch fundierten Votum für eine versöhnende ökumenische Theologie hat das Buch das Verdienst, in fruchtbarer Weise Einsichten aus englischsprachigen und deutschsprachigen Theologien ins Gespräch zu bringen. Auch darin ist es ein Beitrag zur Verständigung.

Friederike Nüssel (Heidelberg)

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