Buch des Monats: Mai 2023

Kleinschmidt, Sebastian

Kleine Theologie des Als ob.

München: Claudius 2023. 123 S. Kart. EUR 20,00. ISBN 9783532628836.

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Sebastian Kleinschmidt, Sohn des Schweriner Dompredigers und Religiösen Sozialisten Karl Kleinschmidt, ist Philosoph und Literaturwissenschaftler und leitete von 1991 bis 2013 die Redaktion der Kulturzeitschrift Sinn und Form. Seitdem arbeitet er als freier Autor. Aufgewachsen in der DDR und als Sohn eines Vaters, für den Kommunismus und Christentum gleichauf lagen, steht er ein Leben lang zwischen Glauben und Unglauben. Er trat aus der Kirche aus, trat wieder ein und wieder aus, bis er sich an Pfingsten 2017 von seinem Freund, dem Lyriker und Theologen Christian Lehnert, erneut in die evangelische Kirche aufnehmen ließ. Der hier zur Debatte stehende Essay zeugt eindrücklich von Kleinschmidts Ringen um Gott.
»Auf dreierlei Weise kann sich der Mensch auf Gott beziehen. In Gestalt seiner Realitätsbejahung, in Gestalt seiner Realitätsverneinung, im Exempel seiner Realitätsvermutung. Als These oder Antithese oder Hypothese.« (7) Kleinschmidt als »skeptischer Zeitgenosse der entgötterten Welt« entscheidet sich für die dritte Möglichkeit, die er mit der seit Friedrich Karl Forberg bekannten Formel des »Als-ob« (etsi deus daretur – als ob es Gott gäbe) näher charakterisiert. Im Verlauf seiner Überlegungen erweist sich dieses Als-ob als eine Art praktischer und – vor allem im Gebet – praktizierter Glaube, als »eine Art Gottestreue in Zeiten von Anfechtung und Glaubensferne« (30).
Kleinschmidt unterteilt seinen Essay in zehn Kapitel ohne Überschriften. Damit wird sein Gedankenfluss im Zusammenhang gehalten und doch gegliedert. Höchst bemerkenswert ist das Poetische seiner Sprache, das er wohl nicht nur bei Christian Lehnert als Glaubenszeugnis versteht. Denn: »In reiner Negativität keimt keine Poesie.« (113) Das ist ein Satz, den sich die »Kulturschaffenden« unserer Tage zu Herzen nehmen sollten – gerade auch dann, wenn sie versuchen, die Leerstelle ideologisch durch Moral und den »Glauben an den Menschen« zu füllen. Kleinschmidt hält es lieber mit Rilke: »[…] statt des Besitzes erlernt man den Bezug« im poetischen Sprechen über Gott (89).
Das 1. Kapitel leitet den Essay ein. Es hat wie das 2. Kapitel biographische Bezüge, konzentriert sich aber vor allem auf den basalsten Akt der Religion: das Gebet. Es wirkt, gleich ob es erhört wird oder nicht, dem »Beter reicht ein Als-ob«. Kleinschmidt zufolge verweist gerade das Gebet auf den »Als-ob-Charakter des Religiösen überhaupt« (16). Im 2. Kapitel findet sich eine Auseinandersetzung mit kommunistischer Religionskritik. Kleinschmidt beschreibt, wie sich bei ihm nach der Lektüre von Feuerbach und Marx, aber auch Nietzsche und Freud der Verdacht regte, »hier werde etwas abgewiesen, das man nicht begriffen hat«. Und er bekennt, zu ersten Mal etwas vom Glauben verstanden zu haben, als er mit 35 Jahren Luther »richtig« las. Im 3. Kapitel geht es um biblisch verstandene »Wahrheit« als »Wirklichkeit« in und zwischen Personen. Es geht um das »Schwert des Geistes« und die Kraft der Liebe, die die »Macht der Bejahung« ist und »mehr als ein Als-ob des Glaubens« (51). Das 4. Kapitel plädiert strikt gegen Ernst Bloch für die Akzeptanz des Menschen als Sünder und zeigt, wohin ein von Gottesgehorsam freigestelltes Wissen um Gut und Böse leicht führt: zum »Gewaltrecht des Guten« (60) und einem Sozialismus als »Philosophie von der Schuld der anderen« (63). Derr Mensch ist Imago Dei und bleibt doch wesenhaft Sünder. Wer diese Zwiespältigkeit abschaffen will, »muss den Menschen selbst abschaffen« (70). Die Kritik der Religionskritik, begonnen im 2. Kapitel, findet im fünften ihren Höhepunkt in einer Auseinandersetzung mit Bertrand Russell. Kleinschmidts Fazit lautet: »Gott ist kein Zentrum der Gewissheit. Er ist das Zentrum einer Frage, einer Bitte, eines Rätsels.« (89) Ja und Nein, würde die Rezensentin hier sagen. Es gibt Momente der Gottesgewissheit, aber sie erwachsen nicht aus weltlichem Wissen. Dem würde Kleinschmidt vermutlich sogar zustimmen. Ausdrücklich festhalten will er, dass das Religiöse ein Sich-Öffnen bewirkt »für eine weit über unser Ich hinausreichende Dimension von Sinnhaftigkeit« (89).
Im 6. Kapitel wird die zunehmende Krisenhaftigkeit unserer gegenwärtigen Lebenswelt in den Blick genommen, wobei vor allem die Klimakrise zu Recht apokalyptische Ängste heraufbeschwöre. Kleinschmidt rät dringend dazu, die Angst weder zu ignorieren noch zu schüren, sondern sie pragmatisch zu bannen durch Besonnenheit. Und er möchte, dass ernstgenommen wird: Die Krisenhaftigkeit unserer Welt stellt uns von neuem vor die Gottesfrage. Das 7. Kapitel diskutiert die (religions)philosophischen Hintergründe der Denkfigur des Als-ob anhand der Philosophen Friedrich Karl Forberg, Hans Vaihinger, Heinrich Scholz und Friedrich Albert Lange. Betont wird die Aufnahme eines positiven Mythosbegriffs gegenüber simplifizierenden Wirklichkeitsbehauptungen religiöser Vorstellungen und damit die »Wendung vom Metaphysischen zum Metaphorischen«. Bekräftigt wird die »Geschwisterlichkeit von Religion und Poesie« (110). Das ist es, worauf Kleinschmidt vor allem zielt. Mit dem Lyriker Christian Lehnert als Mann dieser Geschwisterlichkeit von Religion und Poesie befasst sich dann das 8. Kapitel in anrührender Weise. Kleinschmidt kommt dabei der »schönste Ausruf des Staunens aus der Scholastik« in den Sinn: »Gottes Existenz ist unfassbar; aber noch unfassbarer ist Gottes Nichtexistenz.« Vor diesem Satz »ist die Lehre des Als-ob machtlos«, ist sie nur eine »Erfindung der Philosophie« (117). Das aber, nämlich »etwas lediglich Gedachtes« ist die lebendige Religion nicht, so Kleinschmidt im 9. Kapitel, in dem er auf die religiöse Erfahrung von etwas ganz Anderem zielt. Im religiösen Erleben wird das Bewusstsein von einer irdischen Realität erfasst, »in der ein ›unirdischer‹ Gehalt durchbricht«, was man nur mit dem Wort »Offenbarung« fassen kann, die »ein unbegreifliches Wunder« ist, wie Kleinschmidt mit Heinrich Scholz sagt (120/121). Das »Wunder« wird in Kapitel 10, dem Nachwort, leise eingehegt: nicht mit mirakulöser »Unglaublichkeit« hat es zu tun. Sondern eben damit, dass Irdisches plötzlich durchscheinend wird auf Gottes Ewigkeit hin.
Die Antwort, die Kleinschmidt auf den Atheismus unserer Lebenswelt in seinem Essay gibt, steht in direktem Gegensatz zum berühmt gewordenen »etsi deus non daretur« Dietrich Bonhoeffers, der damit einen Gedankengang von Hugo Grotius in der Fassung Wilhelm Diltheys aufnimmt. Bonhoeffer erläutert: »Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.« (Brief vom 16.07.1944, Widerstand und Ergebung, 192 – DBW 8, 533–534) Dieser sympathische Satz zielt kreuzestheologisch auf das Mitleiden Gottes mit seinen Geschöpfen. Nur: Lässt sich Gott wirklich aus der Welt herausdrängen? Und könnte er dann noch unser Heil wirken? Eher nicht. Auf den Karfreitag folgt der Ostersonntag. Auf die Kreuzigung die Auferweckung, die dem biblischen Zeugnis nach ebenfalls ein Geschehen in der Welt ist, wenn auch kein weltliches.
Ingolf U. Dalferth bezieht zu unserem Problem wie folgt Stellung: Die »methodische Prämisse neuzeitlicher Wissenschaft, von allem sei zu handeln etsi deus non daretur«, führt in die Aporie, wird sie auch auf den Phänomenbereich des Gottesglaubens angewandt. Nicht nur zu glauben, sondern auch nicht zu glauben, wäre unmöglich ohne Gott. »Theologie behandelt ihre Themen deshalb nicht dann adäquat, wenn sie diese gemäß der neuzeitlichen Methodenentscheidung etsi deus non daretur zu traktieren sucht, sondern indem sie gerade umgekehrt alles traktiert etsi deus daretur.« (Dalferth, God first, 199) So gesehen erweist sich Sebastian Kleinschmidt, der aus dem Zweifel heraus zum etsi deus daretur kommt, als wahrer Theologe und führt den Begriff »Theologie« ganz und gar zu Recht im Titel seines Essays.

Annette Weidhas (Leipzig)

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