Buch des Monats: September 2019
Volf, Miroslav, und Matthew Croasmun
Für das Leben der Welt. Ein Manifest zur Erneuerung der Theologie
Münster: Aschendorff 2019. 217 S. Glaube und Gesellschaft, 8. Kart. EUR 19,80, ISBN 978-3-402-12227-3
Ein Manifest zur Erneuerung der Theologie will etwas auslösen: eine Bewegung, eine Gefolgschaft oder zumindest eine Stellungnahme! Angesprochen sind die Theologen. Neu ist das nicht! Das hehre Ziel, die Theologie zu erneuern, hat insbesondere bei den Protestanten Tradition. Hier aber wird ein Begriff gewählt, der seit dem kommunistischen Manifest von Karl Marx 1848 einen penetrant politischen Beiklang mit sich führt. Zettelt das Buch eine Revolution an? Ob das, was Miroslav Volf und Matthew Croasmun aus der Hand geben, die theologische Welt verändert, wird sich zeigen. Jedenfalls ist das Buch zu scharf in der Analyse, um es zu ignorieren und zu visionär in der Synthese, um es nach der Lektüre zu vergessen. Was haben uns die beiden Autoren zu sagen?
Der Haupttitel ist der Schlüssel, der das Mittel der Streitschrift begründet. »Für das Leben der Welt« ist ein doppeltes Zitat. Es verweist auf ein Buch, das Alexander Schmemann 1973 geschrieben hat. Schmemann ist der Doyen der Liturgietheologie in den USA – ein Brückenbauer der Orthodoxie, der das Erbe des Ostens über Frankreich in den Westen getragen hat. »For the Life of the World« ist aber auch ein Bibelzitat, ein Wort aus dem Johannesevangelium (Joh 6,33), das die Sendung Christi zum Inhalt hat. Für Volf und Croasmun kommt darin die Ziel-bestimmung der Theologie zum Ausdruck:
»Die Hauptthese dieses Buches ist, dass die Theologie dem erfüllten Leben dienen sollte, das wir beispielhaft in der Geschichte von Jesus Christus finden und in der großen Verheißung, dass die ganze Welt Gottes Wohnung werden wird, angedeutet wird. Einfach und mit den Worten eines der einflussreichsten Fachleute der Theologie ausgedrückt, ist christliche Theologie der Glaube, der Einsicht sucht.« (131)
Anselms Erbe des Theologisierens, der erkenntnissuchende Glaube, kann sich seinerseits auf biblische Wurzeln beziehen (Jes 7,9; 2Kor 4,13). Mit dieser Kette der Verweise bekennen sich die Autoren des Manifests zur Wolke der biblischen und kirchlichen Zeugen des Glaubens. Was sie unter Erneuerung verstehen, unterscheidet sich demnach fundamental vom Programm des »neuen Glaubens«, das dem Begriff der Reform eine radikalere und kritischere Note der Revision verleihen will. Leserinnen und Leser, die hoffen, dass die Theologie sich von alten Dogmen verabschiedet (beziehungsweise von dem, was sie für überholt und falsch halten), werden von diesem Buch enttäuscht sein. Dieses Manifest ist so katholisch wie es evangelisch ist. Es vertritt orthodoxe Positionen, steht aber auch mit feministischen, befreiungstheologischen und philosophischen Denkerinnen und Denkern für eine öffentliche (oder politische) Theologie ein. Die Autoren scheuen sich auch nicht, ein »betendes Denken« (150 f.) zu fordern. Es ist eine Theologie, die sich im eigentlichen Sinne des Wortes der Ökumene verpflichtet weiß, weil sie denkerisch und praktisch einen glaubenszentrierten evangelischen Lebensstil vertritt. Neu ist auch das nicht, aber in der konsequenten Umsetzung würde es zweifellos eine Erneuerung der akademischen Theologie erforderlich machen, weil diese ihr eigentliches Ziel aus dem Blick verloren hat (11)!
Im ersten Kapitel des Manifests wird dieses Ziel allgemein als »gutes«, »erfülltes« oder »blühendes Leben« umrissen und definiert:
»Was wir unter einer Vision des erfüllten, blühenden Lebens verstehen, ist also dieses: eine Struktur aus expliziten oder impliziten Überzeugungen darüber, was es bedeutet, dass unser Leben gut verläuft, dass wir es richtig führen und dass es sich richtig anfühlt – Überzeugungen, die all unsere Wünsche und Bemühungen bestimmen bzw. bestimmen sollten.« (17)
Die abstrakte Definition hält die effektive, situative und affektive Dimension des guten Lebens zusammen, macht aber auch klar, dass die Vision des Glaubens eine unter vielen Visionen ist oder mit anderen Worten, dass sie eine Option ist, für die man sich entscheiden kann. Wenn der christliche Glaube eine solche Vision ist, sollte folglich im Zentrum der Theologie das kritische Erkennen, Artikulieren und Propagieren dieser Vision stehen. Im säkularen Zeitalter wäre ein streitbares Einstehen dafür nötiger denn je, weil die Entscheidung für ein Leben, das es wert ist, dass man es will, durch die rationalen Imperative der Moderne erschwert wird. Das wahre oder gute Leben ist zu einer Geschmackssache und einer privaten Angelegenheit geworden. Wir leben in einer Kultur, die davon besessen ist, die Ressourcen für ein solches Leben bereitzustellen, aber »was wir brauchen, ist die Wiederbelebung eines nachhaltigen, die Wahrheit suchenden kulturellen Gesprächs über das wahre Leben« (36) – ein Gespräch zu dem die Theologie Wesentliches beizutragen hätte, indem sie sich »geschmacksorientierten, individualisierten und nicht reflektierten Lebensentwürfen entgegenstellt und den Menschen hilft, für sich und die ganze Schöpfung eine überzeugende Vision des erfüllten Lebens zu artikulieren, zu bejahen und zu verfolgen« (37).
Das 2. Kapitel nimmt den Faden auf und vertieft die durch Charles Taylor, Hartmut Rosa u. a. inspirierte Analyse der Gegenwartskultur zu einer Beschreibung der Krise der Theologie. Volf und Croasmun nehmen kein Blatt vor den Mund! Sie theologisieren leidenschaftlich und leiden an einer Theologie, die äußerlich unter Druck geraten ist, weil die finanziellen Ressourcen schrumpfen, das Publikum immer kleiner wird und es schlecht steht um die wissenschaftliche Reputation der Theologie. Das gilt mit Abstrichen auch für die Geisteswissenschaften. Die eigentliche »innere Krise« der universitären Theologie besteht jedoch darin, wie sie auf den äußeren Druck reagiert. Sie vermehrt Wissen, aber verzettelt und verliert sich in der Folge in kleinen Zirkeln, die hochspezialisierte Expertendiskurse führen. Wer hingegen von der universitären Theologie erwartet, dass sie etwas über das wahre, erfüllte oder gute Leben zu sagen weiß, sieht sich enttäuscht. Um ihren Status im Haus der Wissenschaften zu rechtfertigen, gebärden sich die Theologen wie Historiker, treiben Religionswissenschaft oder plappern in religiöser Sprache nach, was schon Nichttheologen (oft mit größerer Sprachgewalt) fordern. (61) Oder sie üben sich in einer Art »Kritikkult«, die alles Positive dekonstruiert, aber haben dann doch nichts zu sagen.
Steht es so schlecht um die Zunft? Die Zeichen an der Wand sind überdeutlich. Manches an der Analyse der Yale-Leute mag typisch für den amerikanischen Kontext sein (zum Beispiel die Klage über die Gehälter oder die Abwendung der Megakirchen von den Universitäten), aber Volf und Croasmun sind zu gut informiert und international zu gut vernetzt, als dass »wir« es uns leisten könnten, ihre Analyse zu ignorieren. Wenn der analytische Teil des Manifests das Bild einer inneren und äußeren Krise der Theologie zeichnet, der auch »uns« betrifft, ist die vorgeschlagene Lösung umso interessanter. Leuchtet die Hauptthese ein? Leisten wir den Manifestanten Gefolgschaft?
Die Vision, die Volf und Croasmun vorstellen, wird die Geister scheiden. Es kann gar nicht anders sein. Aber auch Kritiker werden ihnen attestieren, dass sie eine höchst eindrückliche und gut begründete These vortragen. Die Erneuerung der Theologie, so könnte man die zentrale Überzeugung des Buches zusammenfassen, muss sagen können, warum das Leben, das im Licht der Offenbarung Gottes als ein »Leben in Fülle« (Joh 10,10) verheißen ist, gut ist. Von diesem Zweck kommen Volf und Croasmun zum Thema. Die Schöpfung ist Gottes Wohnung. Und das wiederum bedeutet, dass weder Gott noch die Erlösung allein, sondern Gott und die Welt Thema der Theologie ist, also der Gott, der als Schöpfer und Vollender kommt, um in dieser Welt zu wohnen (80). Man vernimmt in diesen Klängen einer eschatologischen, pneumatologischen und politischen Theologie die Stimme von Volfs Lehrer Jürgen Moltmann! Aber Moltmann ist ‚nur‘ ein Lehrer und Volf nicht »nur« sein Schüler. Tatsächlich hört man in diesem Manifest einen ganzen Chor. Zum Beispiel den »Bariton« der anglikanischen Theologie (vor allem Rowan Williams), aber auch den frischen Sopran einer pfingstlich begeisterten Intellektualität, die Theologie versteht als eine »solide deskriptive Arbeit, die auf eine realistische, lebbare normative Version menschlicher Erfüllung hin orientiert ist« (94).
Das 4. Kapitel setzt sich mit einem wichtigen Einwand auseinander: dem Problem, das durch den (unverzichtbaren) Anspruch auf Universalität entsteht. Volf und Croasmun vertreten die Partikularität aller Universalismen (112), eine Position, die weder in einen Relativismus verfällt noch die alten Absolutheitsansprüche revidiert, philosophisch durchdacht ist, ethisch gut begründet und mit dem Modell der »Improvisation« (125 ff.) in origineller Weise entfaltet wird. Ihre Dialogbereitschaft erlaubt den Autoren ein heikles Thema aufzugreifen, das in der Tradition »Zeugnis« heißt und hier mit »Theologie als Lebensstil« umschrieben wird. Es ist sozusagen der heiße Kern der These, der zu Diskussionen Anlass geben muss, weil er an das Selbstverständnis der universitären Theologie rührt, die Glauben als Lebenspraxis und Theologie als Reflexionsgestalt des Glaubens getrennt und bis zur Unkenntlichkeit auseinanderdividiert hat. Es geht um nichts weniger als die Glaubwürdigkeit einer intellektuellen Suche nach dem wahren Leben. Volf und Croasmun vertreten die Ansicht, dass die Theologie eine Dimension des Lebensstils ist und sich als solcher nicht vom Lebenswandel der Theologen ablösen lässt. Sie wissen natürlich, dass die Einheit von Lehre und Leben perfektionistisch und d. h. moralisch missverstanden werden kann. Volf und Croasmun stellen sich dieser Herausforderung und propagieren eine dialektische Lösung in der Tradition der paulinischen und protestantischen (lutherischen) Theologie, die die Fallen der Gesetzlichkeit vermeidet. »Die Erfüllung der theologischen Aufgabe erfordert eine ganz bestimmte Affinität zwischen dem Leben, das die Theologin oder der Theologe zu artikulieren versucht, und dem Leben, dass sie bzw. er zu leben versucht.« (kursiv i. O. 135) Bestimmung der Affinität heißt bei Volf und Croasmun mit Paulus die permanente Umkehr zur Quelle der Transformation. Die Suche nach dem wahren Leben ist ein Ausdruck nach der Wahrhaftigkeit – ein Kreislauf aus Leben und Re-Artikulation, der im Gespräch mit anderen Suchenden eigene geistige Dispositionen, sprich Tugenden der Theologie, voraussetzt (156 f.). Im letzten Kapitel wird das Modell in exegetischer Feinarbeit mit der Vision des erfüllten Lebens, das sich in Briefen des Paulus finden lässt, verbunden. Es gelingt den Autoren eine überzeugende Sicht des wahren Lebens mit Fokus auf Röm 14,17: »Denn das Reich Gottes ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist.« In dieser konzentrierten Dreigestalt, im Wissen um die Vorläufigkeit des endlichen Lebens und in der Vorwegnahme einer ekstatischen Existenz, werden die Linien gebündelt.
Natürlich hat das Buch Schwächen! Man fragt sich beim Lesen, ob der gestreckte Galopp querfeldein durch die Geschichte und alle Traditionen der Theologie dann und wann zu schnell geht. Das rasante Tempo und die weitverzweigte Argumentation in der Begründung der inneren Krise und der Anbahnung einer Lösung verlangt auch von denen, die sich in den Diskursen auskennen, eine gewisse Sattelfestigkeit. Der Seniorpartner dieses Autorengespanns, Miroslav Volf, ist ein ausgekochter Systematiker, der sich in vielen Denkwelten auskennt. Vieles von dem, was in Fußnoten kurz abgehandelt wird, ist das Nebenprodukt einer hoch konzentrierten lebenslangen Denkarbeit. Der eine oder andere Gedanke müsste im Schritttempo entwickelt werden, um seine Kraft entfalten zu können. Die Verlangsamung in der zweiten Hälfte des Buches tut der Plausibilität des Gesagten jedenfalls spürbar gut.
Ein Manifest ist ein Manifest! Es muss sich dennoch eine kritische Lektüre gefallen lassen, die nicht nur auf den Appell reagiert, sondern die Machart beurteilt. Wer sich auf eine wissenschaftliche Prosa einstellt, wird in der ersten Hälfte des Buches nicht immer die Qualität des sorgfältigen Ausdrucks finden, die man von einer Streitschrift mit einem so hohen Anspruch erwarten darf. Das hat zum rechten Teil mit der Übersetzung zu tun, die den Ton des englischen Originals nicht in jedem Satz angemessen wiedergeben kann. Man merkt, dass sich die Autoren redend an alle Theologen der Zunft wenden, aber zugleich bemüht sind, ihre Argumente sorgfältig zu untermauern. Dieser Mix von Rede und Schreibe, der im Englischen für eine gewisse Frische des Ausdrucks sorgt, wirkt im Deutschen manchmal etwas bemüht. Im zweiten Teil des Buches ist der Stil einheitlicher, die Argumentation weniger sprunghaft und die Referenzen kohärenter. Ärgerlich sind hingegen fehlerhafte Textmarken, die vor der Drucklegung übersehen wurden.
Der bibliophile Leser leidet ein wenig, der leidenschaftliche Theologe liest darüber hinweg und will diesen Kritteleien nicht zu viel Gewicht beimessen. Er wünscht der zweiten Auflage ein sorgfältigeres Lektorat. Dass es zu weiteren Auflagen des Manifests kommen soll, liegt nach Meinung des Rezensenten auf der Hand. Das Buch ist eine kluge Provokation, die eine breite Debatte anstoßen kann und mit anderen Ideen der Erneuerung zusammen diskutiert werden soll. Seine visionäre Weite und seine theologische Tiefe fordern die Zunft zünftig heraus. Hoffentlich nimmt sie die Herausforderung an! Man könnte sie mit einem Bonmot eines anderen Manifestanten, der vor hundert Jahren mit seiner Relecture des Römerbriefs die theologische Welt erschüttert hat, leicht variierend so formulieren kann: Die Theologie soll wieder theologischer werden! Ob die Theologie es schafft, sich zu erneuern? Wenn es ihr dabei nur um ihr Überleben als Wissenschaft ginge, hätte sie den Versuch ihrer Erneuerung vom Start weg verfehlt. Nur als Wissenschaft, die dem Leben dient, wird sie dem Zeitgeist Paroli bieten können.
Ralph Kunz (Zürich)