Buch des Monats: Februar 2022

Delsol, Chantal

La fin de la Chrétienté. L’inversion normative et le nouvel âge.

Paris: Les éditions du cerf 2021. 176 S. Kart. EUR 16,00. ISBN 9782204146197.

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Der Titel des provokanten Essays der französischen Philosophin, Historikerin und Schriftstellerin Chantal Delsol klingt auf den ersten Blick wie ein Beleg für das, was man »Insolvenzrhetorik« nennen könnte. Aus den kaum zu leugnenden Krisenphänomen, die bei einem Blick auf die großen christlichen Kirchen in Mitteleuropa und ihre Theologien zu konstatieren sind, schließen manche Zeitgenossen auf den baldigen oder jedenfalls schleichenden Untergang einer Religion, auf das Ende des Christentums und dann gar auf das allgemeine Ende der Zivilisation. Chantal Delsol versteht den Titel ihres Büchleins anders. Sie beobachtet das Ende der christlichen Zivilisation. Der damit in den Blick genommene Zivilisationsbruch war in ihrer Heimat Frankreich sicher schon früher und auch deutlicher zu erkennen als beispielsweise im Westen Deutschlands. Das Christentum, so sagt die Autorin, ist nicht als Religion am Ende (es wächst erkennbar in bestimmten Weltregionen und entfaltet sich weiter); deutlich zu Ende geht vielmehr eine Zivilisation, in die das Christentum seine Prinzipien, Sitten und Gebräuche eingebracht hat und die durch diese Religion in nahezu allen Lebensbereichen geprägt war. Der Charakter des Christentums als holistische Religion führte am Ende der Antike auf einen holistischen Entwurf einer christlichen Zivilisation und einer normativen wie kulturellen Transformation des römischen Reichs. Frau Delsol spricht von »normativer Umkehr« (l’inversion normative).
Als ersten radikalen Bruch mit dieser klassischen christlichen Zivilisation in Mitteleuropa sieht Frau Delsol nicht die neuzeitlichen Revolutionen in den Niederlanden, England und den Vereinigten Staaten, sondern die Französische Revolution mit ihrem entschlossenen Versuch, eine anti- und nachchristliche Gesellschaft zu gestalten. Alle konterrevolutionären politischen wie intellektuellen Bewegungen (wie beispielsweise der Versuch der Restauration durch die Bourbonen) konnten die dadurch eingeleitete Entwicklung weder umkehren noch wirklich aufhalten. Die katholische Kirche akzeptierte schließlich im zwanzigsten Jahrhundert zuerst den weltanschaulichen und religiösen Pluralismus und zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts dem christlichen Ethos einstmals strikt entgegengesetzte Lebensorientierungen und Handlungen. Die evangelische Theologie und Kirche (möchte man hinzufügen) aus mancherlei Gründen an einigen Stellen sogar deutlich früher.
Nicht nur für Menschen, die sich mit dem antiken Christentum, seiner Entstehung und seinem Aufstieg befassen, ist äußerst interessant, dass Chantal Delsol dieses Ende der christlichen Zivilisation als partielle Rückkehr der paganen (oder wie man früher gern sagte: heidnischen) Welt der Antike interpretiert. Das (neo-)pagane Zeitalter, das nun anbricht, ist nicht durch einen Verfall von Sitte und Moral gekennzeichnet. »Dechristianisierung« bedeutet nicht, wie die Insolvenzrhetorik konservativer Intellektueller insinuiert, Atheismus und Nihilismus oder gar moralischer Verfall der Gesellschaft. An die Stelle der christlichen Zivilisation tritt eine rivalisierende Zivilisation mit einer ganz eigenen Logik und einem eigenen Stil der Moralisierung. Diese neue Zivilisation trägt aber in Wahrheit vertraute Züge: An die Stelle christlicher Vorstellungen treten wieder philosophisch gehaltvolle, aber eben nichtchristliche Anschauungen wie ein Neo-Epikureismus und Neo-Stoizismus. Natürlich sind nicht alle Menschen durch gehaltvolle Theorien geprägt, aber solche gehaltvollen Theorien liegen im Hintergrund moralisch anspruchsvoller Haltungen. Gleiches gilt nicht nur für die theoretischen Hintergründe, sondern auch für die Praxis: An die Stelle christlicher Frömmigkeit tritt beispielsweise in der ökologischen Bewegung eine Ehrfurcht vor der Umwelt, die nicht als Atheismus oder Agnostizismus bezeichnet werden sollte, sondern eher nach dem antiken Vorbild als »cosmothéisme«. Chantal Delsol portraitiert das als eine neue »religion commune«. Sie lässt sich natürlich (die Autorin zieht diesen Vergleich in ihrem Büchlein nicht) bestens mit antiken Haltungen vergleichen.
Seit längerem kehrt sich nach Ansicht von Chantal Delsol wieder um, was schon einmal durch die christliche Zivilisation umgekehrt worden war: Vieles, was in der paganen antiken Welt im Blick auf Gesellschaft, Kultur, Familie, Partnerschaft und Sexualität geschätzt und vom Christentum abgelehnt wurde, kehrt im Rahmen einer »normativen Umkehr« wieder zurück: An die Stelle der Ehe oder des Zölibats als Norm treten wieder multiple Partnerschaften. Schwangerschaften werden nicht mehr als Geschenk Gottes, sondern als etwas gesehen, was auf Nachwuchs führen kann oder aber auch aus diversen Gründen vor der Geburt beendet werden darf. Die christliche Überlagerung der westlichen Kultur verschwindet und damit kommen auch verdeckte pagane Elemente wieder stärker zum Vorschein. Solche Elemente waren nie verschwunden und wurden (wie beispielsweise in der Renaissance) immer wieder neuentdeckt. Außerdem war die christliche Zivilisation immer mit mehr oder weniger offen sichtbaren Übernahmen aus der paganen durchwoben – Frau Delsol verweist auf den hippokratischen Eid und andere pagane Elemente oder Theorien in der christlichen Ethik. In analoger Weise sind heutige postchristliche progressive Bewegungen von starken christlichen Elementen geprägt, die in diesen Bewegungen mehr oder weniger bewusst sind. Aber die Rezeptionsrichtung hat sich geändert; jetzt wird die normative Umkehr der Spätantike durch die Repaganisierung wieder umgekehrt. 384 n. Chr. wurde auf christlichen Druck und mit argumentativer Unterstützung des mächtigen Bischofs Ambrosius von Mailand die Statue der heidnischen Siegesgöttin aus dem Sitzungssaal des römischen Senats entfernt. Der pagane Senator Symmachus protestierte gegen diesen Bildersturm und warb für Pluralismus im öffentlichen Raum. »Es kann nicht nur einen Weg zu einem so großen Geheimnis geben«, schrieb er mit Blick auf die letzten Ursachen irdischer Wirklichkeit. Heute gehören auch die Sympathien der meisten Christenmenschen in Mitteleuropa nicht mehr Ambrosius, sondern Symmachus und christliche Theologen votieren heute für »Pluralismus aus Glauben«.
Wenn also gegenwärtig ein gutes Stück neo-pagane Zivilisation an die Stelle der christlichen tritt, handelt es sich weder um eine bloße Verneinung christlicher Ansichten, Werte und Lebensformen, wie sie etwa bestimmte Formen des Atheismus oder Nihilismus prägte, noch um eine bloße Repristination der paganen Antike. Die neue Zivilisation ist nach Delsol eine Zivilisation mit einer eigenen Logik – oder zumindest mit einem eigenen Stil der Moralisierung. In ihr sind Religion und Moral zwar wieder so getrennt, wie sie es in der römischen Kaiserzeit waren: Ganz egal, ob man im privaten Rahmen Isis und Osiris, Mithras oder Jupiter verehrte, in der Öffentlichkeit wurde ein bestimmter moralischer Anspruch von allen – unabhängig von ihrem spezifischen religiösen oder agnostischen Hintergrund – erwartet. Aber es entstehen auch neue Formen der Moralität: Als ein Zeichen moralisch anspruchsvoller Haltungen am Ende der christlichen Zivilisation ordnet die Autorin beispielsweise das ein, was in Frankreich wie hierzulande mit dem englischen Fremdwort »le woke« bezeichnet wird und dort in der letzten Zeit Gegenstand heftiger Kontroversen nicht nur im Feuilleton war. »Le woke« wird im Nachbarland wie in der afro-amerikanischen Kultur seit dem letzten Jahrhundert für die Haltung von Menschen verwendet, die besonders durch ihr Mitgefühl für ethnische, sexuelle oder religiöse Minoritäten geprägt sind. Eine solche Haltung des Mitgefühls wurde natürlich sowohl im antiken Epikureismus wie im Stoizismus abgelehnt, sie trägt vielmehr erkennbar noch
Restelemente des Christentums in sich und ist doch ein Zeichen für eine post-christliche Zivilisation.
Im zu Ende gehenden christlichen Zeitalter konnte das Christentum im Modus der Herrschaft leben. Damit entstand eine starke Spannung zwischen Elementen urchristlicher Verkündigung und der Botschaft Jesu mit ihrer Tendenz zu Gewalt- und Rechtsverzicht einerseits und andererseits dem ausgeprägten Willen christlicher Institutionen wie der Kirche, Gesellschaft, Kultur und Politik nachhaltig zu prägen. Nun muss das Christentum als Minderheitenreligion nach Delsol einen anderen Modus der Existenz erfinden, kann aber auch dieser jahrhundertealten Ambivalenz entkommen. Angesagt ist nun der Modus der Existenz des »einfachen Zeugen« (simple témoin). Der Grundton des Buches ist, wie gesagt, nicht von Insolvenzrhetorik geprägt. »Il n’est pas sûr que Dieu aut perdu au change«, überschreibt Chantal Delsol das letzte Kapitel. Es ist keineswegs sicher, dass Gott bei der normativen Umkehr verloren geht. Jedenfalls besteht dann weniger eine solche Gefahr, wenn sich die christliche Kirche nicht an ihre zu Ende gehende Gestalt in der christlichen Zivilisation ängstlich klammert.
Es handelt sich bei dem Büchlein von Frau Delsol um einen ebenso provokanten wie pointierten Essay. Er ist stark von der spezifischen Geschichte der Dechristianisierung in Frankreich bestimmt. Manche Parallelisierungen des neo-paganen und des antik-paganen Zeitalters sind so grob skizziert, dass man sich an die interessegeleiteten Konstrukte zum Thema »Antike und Christentum« erinnert fühlt, die den Gleichklang und die Symbiose von paganer und christlicher Antike aus durchsichtigen Gründen stark herauszustellen versuchten. Das Buch lohnt aber die Diskussion. Es würde sich beispielsweise lohnen, mit Blick auf die Geschichte des Christentums hierzulande und insbesondere in der untergegangenen DDR einmal zu fragen, ob nicht die Existenz des »einfachen Zeugen« hierzulande schon einmal mit anderen Termini bedacht und gelebt worden ist. Jedenfalls in bestimmten Kreisen der alten DDR gelebt wurde, bevor es nach 1989 für eine kurze Zeit vielen so schien, als ob die normative Abkehr von der christlichen Zivilisation noch einmal rückgängig gemacht werden könnte. Und es ist ja auch gar nicht ausgemacht, dass Gott nicht noch etwas ganz anderes mit unserer Zivilisation vorhat, als es uns gegenwärtig der Fall zu sein scheint.

Christoph Markschies (Berlin)

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