Buch des Monats: Mai 2022

Houellebecq, Michel

Vernichten.

Roman. Übers. v. S. Kleiner u. B. Wilczek. Köln: DuMont Buchverlag 2022. 621 S. Geb. EUR 28,00. ISBN 978-3-8321-8193-2.

Buch bestellen

Spätestens seit der Koinzidenz des Erscheinens von Michel Houellebecqs »Unterwerfung« mit dem Anschlag auf die Redaktion von »Charlie Hebdo« fragt sich das Feuilleton gern, was Houellebecq in einem neuen Roman vorausgeahnt hat. Putins Krieg gegen die Ukraine ist es nicht, wohl aber die Wiederwahl Macrons – unterstützt durch äußere Gefährdung. Diese Gefährdung zeigt sich in Terrorakten, bei denen jedoch der Islamismus kaum mehr eine Rolle spielt. Dieses Thema hat Houellebecq abgehakt. Doch der Reihe nach.
Paul Raison leidet an der seinem Nachnamen zuwiderlaufenden Unvernünftigkeit der Welt und der Politik. Er hasst Züge mit Burger-Kreationen, die »Paul Constant« heißen, und mit Zen-Bereichen, in denen man sich den Nacken massieren und Vogelgesang lauschen kann. Er lehnt derlei »pseudoverspieltes, in Wahrheit aber auf eine quasifaschistische Weise normatives Ambiente« ab und fragt sich, wie es dazu kommen konnte. Eine Vermutung, die auf den 621 Seiten dann und wann aufblitzt, geht in Richtung Glaubens-, genauer: Transzendenzverlust. Allerdings bleibt Houellebecq wie sein liebenswert gezeichneter Antiheld Paul, der zum Schluss einem Krebsleiden erliegt, Agnostiker. Die Hoffnung über den Tod hinaus ist auf unterschiedliche Weise zwei Frauen vorbehalten: Pauls Schwester Cécile, einer glaubensfesten Katholikin, und seiner Ehefrau Prudence, einer Naturmystikerin, die als Wicca mit Reinkarnation rechnet. Letztere fängt sein Sterben durch ihre unablässige, auch körperliche Nähe auf, erstere durch ihr Gebet. Bevor es so weit ist, versteht Paul aber erst einmal, was der französische Philosoph und Soziologe Raymond Aron meint, wenn er davon spricht, dass die Menschen »die Geschichte nicht kennen, die sie gemacht haben«. Die Gesellschaft ist, wie sie ist, weil es ein immerwährendes Missverhältnis gibt »zwischen den Absichten der Politiker und den tatsächliche Konsequenzen ihres Handelns« (107).
Ja, so ist es wohl. Nicht umsonst fragt man sich derzeit, ob nicht die westliche und zuvörderst deutsche Vernachlässigung der militärischen Abschreckung sowie die Energieabhängig¬keit von Russland Putin zum Krieg gegen die Ukraine ermutigt haben. Falls ja, sind daran allerdings nicht einfach die Politiker schuld, sondern wir alle. Und wissen wir, wie die Geschichte aussehen würde, hätten wir anders gedacht und gehandelt? Derlei Überlegungen verleiden Paul alles Politische so sehr, dass er am Ende bei der Präsidentenwahl, die er mit vorbereitet hat, seinen Stimmzettel ungültig macht.
Das ist ein starkes Stück, denn Paul gehört von Berufs wegen zum Ministerkabinett des Wirtschaftsministers Bruno Juge, dessen Nachname wohl ebenfalls nicht zufällig gewählt ist. Paul verwaltet auch nicht einfach Brunos Terminkalender, sondern wurde von ihm zum Vertrauten erkoren, was Paul den glücklichen Zufall seines Lebens nennt. Die beiden Männer sind Freunde geworden. – Im wirklichen Leben ist Houellebecq mit dem französischen Wirtschaftsminister Bruno LeMaire befreundet. – Bruno Juge nun verzichtet auf die Präsidentschaftskandidatur, weil man glaubt, dass ein Fernsehmoderator die besseren Wahlchancen habe und letztlich auch nur als Platzhalter für den nach zwei Amtszeiten ausscheidenden Päsidenten dienen soll. Macron »for ever« sozusagen. Doch der Wahlkampf läuft schlecht, der dümmlich gezeichnete Moderator erweist sich mehr und mehr als Fehlbesetzung. Auch sonst bietet die Gesellschaft kulturell und politisch wenig Erfreuliches. Die Familien zerfallen, Pflegeindustrie und Sterbehilfe zeigen ihr unmenschliches Antlitz. »Verlangsamung und Stagnation des Westens, der Auftakt zu seiner Vernichtung« (131) hatten sich schrittweise vollzogen.
In dieser Situation tauchen drei Videos auf, die so professionell gemacht sind, dass es sich nicht um Dummejungenstreiche handeln kann und darum der Geheimdienst eingeschaltet wird. Auf einem der Videos wird Bruno Juge mit einer Guillotine geköpft. Etwas später kommt es zu drei Terrorakten. Erst wird eine Samenbank bombardiert, dann ein chinesisches Frachtschiff versenkt und zum Schluss ein Flüchtlingsschiff mit 500 Menschen an Bord. Zieht man um die drei geographischen Punkte dieser Anschläge einen Kreis, liegt dessen Mittelpunkt im Zentrum Frankreichs. Zudem lassen sich die Punkte durch ein gleichschenkliges Dreieck verbinden. Bildet man daraus ein Pentagramm, ergeben sich zwei weitere geographische Punkte. Und siehe da, an einem abgelegenen Ort in Irland hatte es einen geheim gehaltenen Anschlag auf ein Hightechunter¬nehmen gegeben, das vermutlich Mensch-Maschine-Hybride zu militärischen Zwecken entwickelt. Alles höchst mysteriös, Houellebecq schöpft verschwörungstheoretisch aus dem Vollen. Aber eine Lösung gibt es nicht. Die Anschlagsziele passen nicht zusammen. Globalisierungsgegner, Kämpfer gegen verbrecherische Militärforschung und Feinde künstlicher Befruchtung agieren in der Regel nicht Hand in Hand – außer bei den Anarcho-Primitivisten. Aber warum dann das Flüchtlingsschiff und die Videos? Ist ein Trittbrettfahrer am Werk? Festzustehen scheint allenfalls, dass »eine bestimmte Form des Irrsinns am Werk« ist.
Auch Pauls Vater, der lange Jahre für den Geheimdienst gearbeitet hat, kann kein Licht ins Dunkel bringen, obwohl er offenbar einen vagen Verdacht hatte. Doch nach einem Hirnschlag ist die Kommunikation mit ihm äußerst schwierig. Über den zum schweren Pflegefall gewordenen Vater verknüpft Houellebecq den politischen Handlungsstrang mit dem »Familienroman«, der in den letzten drei Kapiteln der insgesamt sieben zentral wird, was sich im vierten als Übergang schon andeutet. Im Vordergrund stehen dabei die Partnerbeziehungen: Pauls eigene Ehe, die sich nach langen Entfremdungsjahren zu einer tiefen Liebesbeziehung entwickelt und Houellebecqs roman¬tische Seite zeigt, der fraglos enge Zusammenhalt seiner Schwester Cécile mit ihrem Mann und die unbedingte Treue der Lebensgefährtin seines Vater zu einem Partner, der sich nach dem Erwachen aus dem Koma nur noch mit den Augen verständlich machen kann. Das Gegenstück zu diesen Beziehungen ist die Ehe seines Bruders Aurélien, der am Ende Selbstmord begeht. Dessen Frau Indy steht für alles, was Houellebecq verabscheut, während die drei anderen ganz unterschiedlichen Frauen irgendwie das Gute in der Welt repräsentieren.
Über die Vatergeschichte kommt Houellebecq auf sein zweites wichtiges Thema neben den Partnerbeziehungen zu sprechen: das Altwerden bzw. die Probleme, die die westlichen Gesellschaf¬ten mit dem Altwerden haben, das sie nicht mehr ertragen können. Sie meinen, der Wert eines Menschen nehme mit dem Alter ab. In früheren Zivilisationen habe die Wertschätzung eines Menschen darauf beruht, »wie er sich sein Leben lang tatsächlich verhalten« hat. Indem wir nun der Jugend höheren Wert beimessen, ohne zu wissen, was sie tut und denkt bzw. wohin das, was sie tut und denkt, führen wird, leugnen wir nach Houellebecqs Auffassung den »Wert unseres tatsächlichen Handelns«. »So entziehen wir dem Leben jeden Ansporn und jeden Sinn; genau das ist es, was man als Nihilismus bezeichnet. Die Vergangenheit und die Gegenwart zugunsten der Zukunft abzuwerten …, das sind weitaus entscheidendere Symptome des europäischen Nihilismus als alle, die Nietzsche je aufzeigen konnte«. (379) In der Tat. Ohne einer Konfrontation zwischen Alt und Jung das Wort reden zu wollen, möchte man schon einmal darauf hinweisen, dass die verheerenden Ideologien des Faschismus und Kommunismus mit Jugendbewegungen begannen, angeführt von bzw. unterstützt durch Ältere. Der Überschwang und Tatendrang der Jugend lassen sich leicht missbrauchen. Ich weiß, aus der Feder einer Rezensentin des Jahrgangs 1960 wirkt derlei wohlfeil. Doch man schaue sich die Geschichte daraufhin einmal nüchtern an.
Letztlich ist Houellebecqs Roman eine Auseinandersetzung mit der Sinnhaftigkeit bzw. Sinnlosigkeit menschlichen Tuns – gekennzeichnet von der Einsicht, dass Politik und Geschichte ablaufen, ohne dass der Einzelne je mit Sicherheit wissen kann, ob sein Handeln zu Gutem oder Bösem führen wird. Das ist der tiefere Grund dafür, dass der Politthriller des ersten Romanteils leise ausläuft, ohne aufgelöst zu werden. Für den Leser ist das etwas ärgerlich, weil der Spannungsaufbau gewaltig war. Für das, was der Autor sagen will, ist diese Enttäuschung aber nötig: Letztlich, und speziell, wenn es ans Altern und Sterben geht, werden wir zurückgeworfen auf unsere zwischen-menschlichen Beziehungen.
Im Gegensatz zu seinen früheren Büchern hat Houellebecq nun ein Werk vorgelegt, das versöhnend ist. Doch gerade damit provoziert er erneut massiv. Zum einen tut er das, indem er einem kulturellen Unbehagen an der Gegenwart Ausdruck verleiht, zum anderen, indem er dem Privaten einen grundsätzlichen Vorrang vor dem Politischen einräumt. Und: Das Private bleibt bei seinen positiv gezeichneten Figuren nicht ohne Transzendenzbezug. Bei Paul selbst bleibt dieser Transzendenzbezug relativ schwach und beschränkt sich auf die Einsicht, dass eine »vollkommen deterministische Welt« nicht nur Christen, sondern Menschen allgemein als sinnlos erscheint. Und er ahnt, dass die christliche Vorstellung des Zusammenhangs von Sünde und Gnade dem Determinismus entgegensteht. Paul leidet an der Vergänglichkeit, versteht aber, dass sie »nichts anderes als eine der wesentlichen Bedingungen des Lebens« ist. Uneingedenk dieser Einsicht hadert er jedoch massiv mit der radikalen Vernichtung, der seine Existenz durch den Krebs entgegengeht. Wird vielleicht aber doch nur das irdische Leben vernichtet und nicht das Leben überhaupt? Das bleibt offen. Paul wird nicht zum Paulus. Der Glaube bleibt ihm ein Rätsel, aber zu Liebe und Hoffnung, vor allem zur Liebe, wird er bekehrt. Die Liebe lässt ihn der Vernichtung – des Westens und der eigenen Existenz – gelassen ins Auge sehen. Und nun ja, wer weiß: Der Glaube seiner Frau und seiner Schwester reicht über den Tod hinaus, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Und beide liebt er. Vielleicht reicht ihr Glaube auch für ihn?

Vor diesem Hintergrund versteht man, dass Houellebecq dieses Buch als sein letztes verstanden wissen will. Allerdings wäre das wirklich schade. Schließlich eröffnet es durchaus die Möglichkeit, dass das Vernichten nicht das letzte Wort hat – nicht in Blick auf die westliche Zivilisation und nicht in Bezug auf die in Gott geborgene einzelne menschliche Person.

Annette Weidhas (Leipzig)

Weitere Bücher