Buch des Monats: November 2022
Sciuto, Cinzia
Die Fallen des Multikulturalismus. Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft.
Zürich: Rotpunktverlag 2020. 208 S. Geb. EUR 25,00. ISBN 9783858698865.
In diesem Buch skizziert die italienische Journalistin und Philosophin Cinzia Sciuto das, was sie unter dem Begriff eines »kosmopolitischen Multikulturalismus« versteht. Sich selbst dem linken Spektrum zurechnend, moniert Sciuto, dass seitens linker Intellektueller über lange Zeit die Faktoren Kultur, Religion und Menschenrechte vernachlässigt worden seien in dem Glauben, dass allein wirtschaftliche und soziale Kräfte das Zusammenleben in Gesellschaften maßgeblich bestimmen. Durch diese einseitige Sicht jedoch werden, so die Verfasserin, zentrale Probleme erst gar nicht erkannt. Es gehe um »die Macht, soziale Dynamiken und Beziehungen zu formen« (12), die dazu führen kann, Menschen die Freiheit zu nehmen, sich selbstbestimmt zu entwickeln. Wo jedoch die Faktoren Kultur und Religion ausgeblendet werden, kommen auch diese Dynamiken nicht in den Blick, wie Sciuto herausstellt.
Eine multikulturelle Gesellschaft brauche daher Laizität, verstanden als »vorpolitische Voraussetzung für das zivile Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft« (14). Gegner einer solchen Laizität seien »Fundamentalisten«, die die eigenen Normen (seien diese religiös oder ideologisch begründet) ins Feld führen, um den öffentlichen Raum zu bestimmen. Es gebe viele Gläubige, die nicht Fundamentalisten und viele Fundamentalisten, die nicht (im religiösen Sinne) Gläubige seien. In den USA etwa seien zwar Religion und Staat getrennt, was jedoch nicht bedeute, dass es sich hier gesellschaftlich um Laizität handele. Der Schutz der Laizität liegt Sciuto am Herzen, denn sie sieht diese bedroht. Angesichts verschiedener religiöser wie auch ideologische Geltungsansprüche gehe es um ein Verständnis von Multikulturalismus, welches es vermeide, bestimmten Gruppen besondere Rechte einzuräumen. Daher optiert die Autorin pointiert für einen kosmopolitischen Multikulturalismus und wendet sich kritisch gegen Ansätze wie etwa die der kanadischen Philosophen und Gesellschaftstheoretiker Charles Taylor oder Will Kymlicka, die je in eigener Weise die Entwicklung des Selbst an eine kulturelle oder religiöse Gruppenzugehörigkeit binden und daher die Möglichkeit bestimmter Gruppenrechte erwägen. Dem widerspricht Sciuto entschieden.
Laizität beschreibt sie als »eine mentale Haltung, die jedwedes Autoritätsprinzip ablehnt, nicht bloß das des Religiösen. Laizistisch sein heißt, keine Form von Tradition ins Feld führen – ob religiös oder nicht ist für Laizisten vollkommen irrelevant –, um damit die Einschränkung, wenn nicht sogar die Verletzung der Autonomie und Freiheit irgendeines Menschen zu rechtfertigen.« (32) Damit sind die Faktoren mentale Haltung als Grundlage eines kosmopolitischen Multikulturalismus, kulturell-religiöse Wirkmacht und öffentlicher Raum benannt. Der laizistische Staat habe Sorge zu tragen, dass trotz des Fortbestehens der kollek-tiven Dimension vor allem religiöser Traditionen es insbesondere im Bildungsbereich zu keiner Ausdehnung der religiös-kulturellen Wirkmacht hinein in den öffentlichen Raum komme. Die kollektive Dimension bleibt damit die Ansammlung von Einzelnen, sie wird also nicht zu einem identitären Agens überhöht, nicht zu einer Gruppenidentität stilisiert, für die irgendwelche Rechte eingefordert würden. Laizität in diesem Sinne sei »ein anderes Wort für Gleichheit« und meine keineswegs eine »Sakralisierung des Staates«, da es nicht mit einem »autoritären Staat vereinbar«, sondern »in höchstem Maße ein demokratisches Prinzip« sei (35).
Zentral für Sciuto ist damit die Laizität im Bildungssystem, da hier Menschen zur Eigenständigkeit ermutigt und herangebildet werden können. Dies aber verlange auch, dass Laizität nicht lediglich als das Heraushalten der Religionen aus dem öffentlichen Raum betrachtet werde, sondern dass der laizistische Staat auch danach fragen müsse, was innerhalb der Gemeinschaften vor sich gehe. Es sei mittlerweile »der Moment gekommen, da der laizistische Staat die Verantwortung übernimmt und genau hinterfragt, was im Inneren religiöser Gemeinschaften passiert, um die Rechte der einzelnen Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten« (36). Die Autorin benennt verschiedene Beispiele für die Behinderung individueller Entfaltung durch den Druck von Kollektiven und bietet eine Reihe von Beispielen im Bereich etwa islamischer Traditionen, ethnischer Clans und anderer.
Sciuto stellt heraus, Multikulturalismus werde dann problematisch, wenn man damit eine Politik der rechtlichen Pluralisierung begründe. Indem man zunächst Gemeinschaften nach kulturellen, ethnischen oder religiösen Aspekten definiere, führe dies zu einer Essentialisierung und Stereotypisierung einer Ethnie, Kultur oder Religion sowie einer Homogenisierung, da auch ansonsten ganz anders orientierte Individuen (die dennoch vom Betrachter dieser Gruppe zugerechnet werden) unter diesen Aspekten wahrgenommen werden. Damit werden andere Aspekte der Identität an den Rand gedrängt oder faktisch für weniger relevant erklärt, etwa das Regionale betreffend (wo kommt ein Mensch genau her), das Soziale betreffend (gehört das Individuum zu einer unteren, mittleren oder oberen sozialen Schicht?), das Alter und die Milieus betreffend, den Bildungsgrad betreffend, das Geschlecht betreffend, die politische Ausrichtung betreffend und vieles mehr. Damit aber schaffe die Politik des Multikulturalismus aktiv eben die Identitäten, die sie vorausgesetzt hat.
Als Beispiel nennt Sciuto Großbritannien, wo die Politik des Multikulturalismus besonders vorangeschritten sei. Ein neues Stadtteilzentrum in einer armen Gegend zum Beispiel sei hier politisch nicht mit dem Argument durchsetzbar, dass die Menschen dort arm sind (eine soziale Zuschreibung), sondern erst durch das Argument, hier handele es sich um Muslime (eine kulturell-religiöse Zuschreibung), die ansonsten ungleich behandelt werden würden. Dieses Argument verfängt nach Sciuto erstens deshalb, weil die Behörden auf diese Kategorie durch die Politik des Multikulturalismus quasi »geeicht« sind, da die Kategorie angeblich Authentizität verbürgt. Andererseits werden Individuen, die sich selbst nicht als Muslime verstehen, nominell aber Muslime sind, mit dieser Kategorie arbeiten, wenn sie damit Macht ausüben können. Die Kategorie schafft damit die Identität erst, denn Jahre zuvor wurden in Großbritannien Menschen aus Asien nur nach Herkunftsregion wahrgenommen, nicht aber im Blick auf ihre religiöse Zugehörigkeit. Letzteres kam erst durch die Politik des Multikulturalismus oder wurde mindestens dadurch entscheidend gefördert.
Ihren eigenen Ansatz versteht Sciuto demgegenüber als kosmopolitisch: »Aus einer universalistischen und kosmopolitischen Perspektive steht die Zugehörigkeit zur Menschheit über allem. Jede weitere Zugehörigkeit ist zweitrangig und nur so weit zu akzeptieren, wie sie nicht zu Konflikten mit der primären Zugehörigkeit führt.« (170) Hier widerspricht sie auch Habermas, der meint, im klassischen Liberalismus sei die Frage der sozialen Einbindung bereits enthalten, wenn gelte: »die Integrität der einzelnen Rechtsperson kann, normativ betrachtet, nicht ohne den Schutz jener intersubjektiv geteilten Erfahrungs- und Sinnzusammenhänge garantiert werden, in denen sie sozialisiert worden ist und ihre Identität ausgebildet hat« (Habermas, Anerkennungskämpfe, 172). Genau dies reiche jedoch nicht aus, so Sciuto, denn es sei »um die Integrität der Person zu schützen, […] manchmal notwendig, sie aus dem Umfeld zu entfernen, in dem sie geboren wurde und ihre Identität ausgebildet hat. Niemand käme je auf den Gedanken, den Schutz der ›Lebenszusammenhänge‹ eines Kindes einzufordern, das in seiner Familie misshandelt wird.« (169) Die besagten Lebenszusammenhänge sind, so Sciuto, gegenüber den »grundlegenden Menschenrechten dieser Person zweitrangig« (169). Unabdingbar sei, dass vielmehr, dass »ein Grundstock von Werten ausgemacht werden [muss], die den Kern der Bürgerschaft ausgemachen und von nationalen, ethnischen, kulturellen und religiösen Zugehörigkeiten unabhängig und diesen übergeordnet sind« (171). Dieser Kern müsse verteidigt werden.
Es handelt sich um ein pointiertes Plädoyer für eine universalistische Basierung von Multikulturalismus, das zum Nachdenken herausfordert, indem es unbequeme Fragen stellt, in heilsamer Deutlichkeit Probleme benennt, Herausforderungen analysiert und Lösungsvor-schläge andeutet.
Henning Wrogemann (Wuppertal)