Buch des Monats: Januar 2021

Le Goff, Jacques [Hg.]

Menschen des Mittelalters. Von Augustin bis Jeanne d’Arc.

M. e. Vorwort v. P. Monnet. Aus d. Franz. v. A. Bredenfeld, D. Klotz, B. Lamerz-Beckschäfer u. B. Ott. Darmstadt: wbg Theiss 2020. 448 S. m. 170 Abb. u. Ktn. Geb. EUR 48,00. ISBN 9783806240696.

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Sammelbände zu »großen Persönlichkeiten« sind Legion. Die Wissenschaftliche Buchgesell-schaft hat vor einiger Zeit Sammelbände zu wichtigen Theologen aufgelegt, es gibt »Klassiker der Theologie«, »die Kaiser des Mittelalters« und manches Andere für nahezu jedes Fachgebiet. Der hier vorzustellende Band hebt sich aus dieser Schar nicht nur durch seine opulente Ausstattung, Kunstdruckpapier, ausgesuchte und qualitätvoll reproduzierte Abbildungen sowie Anhänge mit Karten bzw. Literaturanhang heraus. Er ist nämlich nicht eine durch Buchdeckel und ein mehr oder weniger geistreiches Vorwort zusammengehaltene Sammlung von Einzelbeiträgen unterschiedlicher Qualität wie Ausrichtung, sondern von einem großen französischen Historiker und dessen historiographischen Programm geprägt: Jacques Le Goff (1924–2014) wurde in Paris, Prag, Oxford und Rom ausgebildet und wirkte dann zuerst zusammen mit Fernand Braudels und dann als dessen Nachfolger an der École Pratique des Hautes Études bis zu seiner Pensionierung 1977.
Der opulente Sammelband verrät auf den ersten Blick drei Grundorientierungen von Le Goff: Immer wieder betonen der Herausgeber und seine über vierzig Autorinnen und Autoren, darunter die erste Garde französischer Historiker wie Jean-Claude Schmitt oder André Vauchez, dass sie Wegbereiter des geeinten Europa vorstellen: Sich für ein geeintes Europa einzusetzen und seine historischen Wurzeln freizulegen, lag dem Historiker Le Goff sehr am Herzen. Sein Biogramm Karls des Großen schließt mit dem Aachener Karlspreis und seinen Preisträgern »Jean Monnet, Konrad Adenauer, Robert Schuman, Václav Havel, Jean Claude Junker sowie Papst Franziskus«. Le Goff konnte solche langdauernden Wirkungen umso beherzter in den Blick nehmen, als ihm zweitens die klassische Periodisierung eines Mittelalters bis zum Ende des 15. Jahrhunderts – wie auch die ganze entsprechende Einteilung der Geschichte – äußerst suspekt war. Schließlich interessierten ihn Persönlichkeiten als Spiegel der Totalität einer Zeit, ihrer Kultur, politischen und Ideen-Geschichte sowie ihrer Sozialstruktur. Neben Ideen konzentrierte Le Goff sich auf Mentalitäten. Alle diese Schwerpunkte der historischen Schule, für die er stand, prägen die über hundert, meist knapp zweieinhalbseitigen, gelegentlich aber auch lediglich halbseitigen Portraits (stellenweise Doppelportraits: Klara und Franziskus von Assisi). Ein Werk quasi aus einem Guss! Einen ganzen Teil hat der Herausgeber selbst geschrieben, ebenso knappe Charakterisierungen von Teilabschnitten des Mittelalters (wie beispielsweise der Jahre von 325–814 als Zeit von der Christianisierung bis zu Karl dem Großen). Die – wie wir sagen würden – mittel- und nachmittelalterliche Rezeptionsgeschichte ist immer im Blick; Augustinus wird beispielsweise in seiner zwischen mittelalterlichen Augustiner-Emeriten (der Gemeinschaft, der Luther in Erfurt beitrat) und Kanonikern gespaltenen Rezeption beschrieben. Nur wenn diese Transformationsgeschichte eher regional oder disziplinär begrenzt ausfiel – ich denke an die Rezeption des Anselm von Canterbury in den Jahrzehnten zwischen den Weltkriegen des zwanzigsten Jahrhunderts –, fehlt sie in dem Sammelwerk. Gelegentlich möchte man mit den Autorinnen und Autoren in eine Diskussion treten, beispielsweise mit Le Goff selbst (wenn das noch möglich wäre) über sein Portrait des großen Politikers und Abtes von Saint Denis, des Suger. Weitestgehend in den Bahnen der klassischen Thesen über die Zusammenhänge zwischen einem frühgotischen Neubau der Abteikirche und Sugers Schriften über diesen Neubau, weitestgehend unerschüttert von aller Kritik an diesen Hypothesen des vergangenen Jahrhunderts entwickelt der Herausgeber sein Bild des wirkmächtigen Benediktiners. Aber wenn man gelesen hat, dass rechtzeitig zu Weihnachten 2020 der vor 200 Jahren wegen Sturmschäden niedergelegte nördliche Turm der hochgotischen Doppelturmfassade der Abteikirche von Saint Denis nun wieder aufgebaut wird, ahnt man, dass es hier jeweils nicht nur um historische Richtigkeiten, sondern um europäische und nationale Identitäten geht. Neubewertungen in der Forschung werden meist eher implizit angedeutet, gelegentlich aber durchaus deutlich markiert (z. B. die Neuakzentuierung der Bedeutung der Wunder in den Veröffentlichungen des Gregor von Tours seit dem 1980er Jahren). Kaiser, Könige, Fürsten, Bischöfe, Äbte und Heilige (Frauen und Männer) prägen das Werk und man scheute sich im laizistischen Frankreich nicht, Menschen mit der kirchlichen Sprachreglung des Mittelalters als »Heilige« im Titel anzuführen. Maler wie Giotto und Dichter wie Dante sind die Ausnahme. Der Band enthält aber auch Portraits fiktiver Persönlichkeiten wie der Päpstin Johanna und (als den letzten Beitrag) des Teufels, aber keinen Abschnitt zu einem Juden und wenige zu Muslimen, Averroes (ibn Rushd) und Saladin stechen hervor. Hieran wird mindestens Fachleuten deutlich, dass inzwischen dem Paradigma der französischen Annales-Schule (benannt nach der Zeitschrift, die Le Goff ab 1967 herausgab) weitere einflussreiche Paradigmen der Mittelalterforschung gefolgt sind, aber für den Sammelband folgenlos blieben. Das multireligiöse Mittelalter, das uns beispielsweise Michael Borgolte wahrnehmen gelernt hat, spielt hier noch keine Rolle und im Portrait von Ramon Llul tauchen praktisch aus dem Nichts »die Denkweisen der gebildeten Muslime« auf. Albertus Magnus nutzt »von arabischen Gelehrten kommentierte und ergänzte griechische und lateinische Quellen«. So wird man die Transformation klassischer antiker Philosophie und anderer Wissenschaften in eine islamische Wissenskultur wohl nicht mehr abfertigen wollen und hier liegen wohl auch Grenzen dieses ansonsten ungemein anregenden, spannend geschriebenen und daher leicht zu lesenden Buches.
Das Buch schließt, wie gesagt, mit einem Abschnitt zum Teufel. Und mit Martin Luther. Blickt man auf die Realität des Teufels im Leben und der Theologie des Reformators, den ganze Forschergenerationen dem Mittelalter zu entreißen und in die Neuzeit zu verpflanzen versuchten, wird man Le Goff besser verstehen können, der sein »Mittelalter« eigentlich bis ins achtzehnte Jahrhundert ausdehnte. Wem allerdings seine plötzlich doch der Konventionalität klassischer Epochengrenzen verpflichtete Disziplin, den Sammelband an dieser Stelle und also zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts zu schließen, geschuldet ist, verrät der Herausgeber nicht. Er markiert nur im Vorwort, dass er es eigentlich anders sieht. So schließen aber Luther und der Teufel das Mittelalter. Der Reformationshistoriker Heiko Augustinus Oberman, der 1982 eine geistreiche Provokation unter dem Titel »Luther — Mensch zwischen Gott und Teufel« vorlegte, hätte vermutlich seine helle Freude an diesem Buchschluss gehabt, andere deutsche Reformationshistoriker dürften es weniger haben. Wenn man sich allerdings klarmacht, dass auch nach dem achtzehnten Jahrhundert der Teufel sich keineswegs nur auf die Rolle jener »fiktiven Persönlichkeit« beschränkte, in der ihn die aufgeklärte historische (und theologische) Wissenschaft pazifizieren wollte, werden bei aller Sympathie für die geistreiche Provokation auch die Grenzen solcher Provokationen deutlich.

Christoph Markschies (Berlin)

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