Buch des Monats: Juni 2022

Grau, Marion, and Jason Wyman (Eds.)

What is Constructive Theology? Histories, Methodologies, and Perspectives.

T&T Clark: London/New York/Dublin 2020. 248 Seiten. Kart. EUR 36,29. ISBN 978-0-5676-9654-0.

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In der nordamerikanischen Theologie ist an die Stelle des herkömmlichen Arbeitsfeldes der Systematischen Theologie in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher der Ausdruck »constructive Theology« getreten. Dieser hat in der deutschsprachigen Theologie weder ein Pendant, noch ist hierzulande klar, was unter »constructive theology« zu verstehen ist. Der von Marion Grau und Jason Wyman herausgegebene Band schlägt nun eine Schneise für alle die, die einen Einblick in Geschichte und Programm der »constructive theology« und den Schnittmengen zu deutschsprachigen Entwicklungen gewinnen möchten. Marion Grau ist Professorin für Systematische Theologie, Ökumene und Missionswissenschaft an der MF Norwegian School of Theology, Religion and Society. Jason A. Wyman ist Adjunct Professor am Manhattan College in den USA.
In der Einleitung wird zunächst festgehalten, dass «constructive theology” bislang weithin ein nordamerikanisches Phänomen ist (vgl. 3). Allerdings liegen die Wurzeln den Forschungen von Wyman zufolge dennoch in Europa. Denn die Rede von »constructive theology« findet sich zuerst in einem Buch mit dem Titel »Contentio Veritatis: Essays in Constructive Theology« aus dem Jahr 1902, in dem sechs Tutoren an der Oxford University sich zum Theologieverständnis geäußert haben. Sie diagnostizieren ein Unbehagen gegenüber der alten Orthodoxie unter jüngeren Gebildeten und halten eine »reconstruction« der christlichen Lehre für nötig. Schon in diesem Werk wird deutlich, was auch für die Gruppe um Grau und Wyman wichtig ist: »constructive theology« ist erklärtermaßen »work in progress« und baut auf theologische Zusammenarbeit und Dialog. Die Rezeption des Begriffs verlief wohl über den US-amerikanischen Theologen Borden Parker Bowne und insbesondere Bernard Eugene Meland, einen der führenden Theologen an der Chicago Divinity School. Dabei wird frühzeitig erkennbar, dass sich »constructive theology« von einer konfessionell-dogmatischen Glaubensauslegung ebenso unterscheidet wie von einer systematischen Theologie, die mit Systemanspruch auftritt.
Zur begriffsgeschichtlichen Entstehungsphase gehört weiter die Zeitschrift Constructive Quaterly, die 1913 von Silas McBee, einem episkopalen Laien, gegründet wurde. Damit verfolgte er das Ziel »to bring together members of all Communions who will write constructively of the Christianity they profess und practice in order that they may know their Communion as they themselves would desire to have it known” (13, dort Zitat). Hier scheinen ein transkonfessionelles Interesse an der Präsentation des Christentums und eine ökumenische Orientierung auf, die Wyman auch für gegenwärtige »constructive theology« für wesentlich hält (vgl. 13). Sie akzeptiere die Kritik am Christentum von verschiedenen Seiten und die kritisch-dekonstruierenden Anfragen an christliche Lehrtraditionen und suche nach einer freien, lebendigen und operationalen Glaubensauslegung. Interessant im Zusammenhang dieser frühen Phase der »constructive theology«, die Wyman als »proto-constructive« etikettiert, sind die Überlegungen von William Porcher DuBose im Constructive Quaterly. Er reflektiert den Zusammenhang von »constructive« mit den Verben »construct« und »construe« und entscheidet sich für das zweite Verständnis. Denn für ihn geht es in der Theologie nicht um »construct« im Sinne von Herstellen. Das Christentum ist, was es ist. Man muss es nicht herstellen oder überarbeiten (vgl. 14, dort das Zitat). Gegenüber diesem Verständnis hat sich nach Wyman jedoch ein anderes Verständnis durchgesetzt, in dem es tatsächlich um »construction« (Aufbau, Entwurf) und nicht um çconstrual« (Auslegung) geht. Dem Leitbild des Constructive Quaterly zufolge sollte »Constructive« einladen zu einer freien, lebendigen und bewussten Erklärung des tatsächlichen Glaubens (vgl. 15).
Zur »proto-constructive theology« gehören zwei weitere monographische Untersuchungen, die Wege in unterschiedliche Richtungen weisen. Zum einen handelt es sich um die Constructive Natural Theology von Newman Smith, zum anderen um A Constructive Basos for Theology von James Ten Broeke. Beide Werke waren zwar nicht sehr einflussreich, trugen aber doch zur weiteren Verbreitung des Terminus »constructive« bei und formulierten zugleich auch noch deutlicher die Kritik an herkömmlicher Theologie. Während sich Smith für eine Verankerung der Theologie in natürlicher Theologie ausspricht, ist Ten Broeke der Auffassung, dass eine gute theologische Arbeitshypothese hilfreich sei für die Gestaltung individuellen und gemeinschaftlichen religiösen Lebens, ohne dogmatisch zu werden (vgl. 17, dort das Zitat). Damit verbunden lehnt er die Vorstellung eines dem Christentum inhärenten Systems ab, so dass es keine finale, wahre Darstellung weder des christlichen Glaubens insgesamt noch auch einer einzelnen Lehre geben kann (vgl. 17). Stattdessen müsse christliche Theologie konstant erneuert werden, um auf neue Entwicklungen, Probleme und Gedanken antworten zu können. Das gilt nach Wyman bis heute: »Constructive theologies, through the present, tend to be theological engagements with specific contexts and problems, employing insights from outside disciplines, and toward the end of making the world better or more just.” (17) Darin ist eine konstante Auseinandersetzung der Theologie mit der Kultur und ihren narrativen und mythischen Artikulationen nötig, wie sie dann vor allem Bernard Eugene Meland forderte.
Gegenüber der »proto-constructive« Phase ist die »constructive theology« im Sinne einer ausdrücklichen disziplinären Selbstauslegung und Verpflichtung verbunden mit der »Workgroup on Constructive Theology« (vgl. 24) verbunden, die sich 1975 an der Vanderbilt University, Nashville, gründete. Zu den Gründungsgliedern gehören Gordon Kaufman, Edward Farley, David Tracy und Sallie McFague. Die Gruppe ist zwar überwiegend protestantisch, hat jedoch in Tracy einen schwergewichtigen katholischen Mitstreiter. Entschiedener als alle anderen tritt er dafür ein, die Herausforderung durch den wachsenden Pluralismus nicht nur anzunehmen, sondern als eine Bereicherung, ja einen Segen für die Theologie zu begreifen (vgl. das Zitat zu Beginn der Einleitung, 1). In kritischer Auseinandersetzung mit der als einlinig aufgefassten Korrelationsmethode von Paul Tillich wirbt Tracey für eine kritische Wechselbeziehung zwischen Theologie und Kultur in Gestalt einer »revisionist theology« (vgl. 22). Unter demographischen Gesichtspunkten war die Gruppe allerdings problematisch, weil sie überwiegend aus weißen Männern bestand. Zwar gehörten die feministische Theologin Sallie McFague und für kurze Zeit auch Dorothee Soelle der Gruppe an. Soelle verließ die Gruppe aber wieder, weil sie ihr zu abständig gegenüber der Befreiungstheologie war. Die führenden Köpfe der afroamerikanischen Befreiungstheologie wie James H. Cone und Cornel West konnten nicht gewonnen werden, dafür dann aber die afroamerikanischen Theologinnen Sheila Brigss und M. Shawn Copeland.
Die Entwicklung der Gruppe kann an ihrer Sammelbände Christian Theology: An Introduction to Its Traditions and Tasks (1982), Reconstructing Christian Theology (1994), Constructive Theology: A Contemporary Approach to Classical Themes (2005) und Awake to the Moment: An Introduction to Theology (2016) abgelesen werden. Über diesen Zeitraum hinweg konnte sich der Terminus »constructive theology« in der theologischen Fachwelt fest etablieren. Zugleich wurden die kontextuellen Bezüge immer breiter und reichhaltiger. Verbindend sind die interdisziplinäre und ökumenische Offenheit, die Ablehnung eines Systemdenkens und das Bestreben, eine lebendige und Leben und Diversität fördernde Theologie in dialogischen Formen zu betreiben. Zuletzt wurde das Ziel formuliert, Studierende bereits in der ersten Ausbildungsphase für »constructive theology« zu gewinnen.
In dem hier angezeigten Band werden zum einen Genese und Profilbildungen der »constructive theology« erschlossen. Zum anderen geht es aber um die konkrete Fortentwicklung und Verbreitung über den nordamerikanischen Bereich hinaus, die u. a. durch die Zusammensetzung der Autorinnen und Autoren gelingt. Der Band ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es um Geschichte, Genre und Theorie der »constructive theology«. Grundlegend ist hier der Beitrag von Jason Wyman, auf den sich diese Buchvorstellung im Vorangehenden besonders bezog. Wyman greift seinerseits auf seine 2017 veröffentlichte Monographie »Constructing Constructive Theology« zurück. Es folgt ein Beitrag von John Thatamanil, der die Verbindung von »constructive theology« und imaginativer Theopoetik für das methodische Profil vorschlägt. Marion Grau widmet sich demgegenüber der Verbindung mit der historischen Arbeit. Im zweiten Teil werden in den Beiträgen von Heike Peckruhn, Shelly Rambo, Holly Hillgardner und Anthony G. Reddie unterschiedliche epistemologische, hermeneutische, komparative und partizipative Zugangsweisen reflektiert. Im dritten Teil folgen »Postcolonial Reconstructions« in Beiträgen von Laurie Cassidy, Lawrence N. Nwankwo und Judith Gruber. Die Aufsätze demonstrieren durch ihre vielfältigen Themen und Kontexte den Pluralitätsanspruch der »constructive theology« und machen zugleich deutlich, dass es diese nur in einer Vielfalt von methodischen und thematischen Zugängen geben kann. Das Profil der »constructive theology« wird einerseits deutlich markiert durch die Grenzziehung zur herkömmlichen dogmatischen und systematischen Theologie. Andererseits bleibt aber unklar und muss vielleicht auch unklar bleiben, in welchem positiven Sinne sich die Vielfalt der Ansätze unter dem Terminus »constructive theology« vereinigen können. Es scheint, dass Übereinstimmung darin herrscht, dass der Gegenstand der Theologie selbst kein der Theologie objektiv vorgegebener ist – z. B. in Gestalt des Christentums oder in Gestalt von Religion –, sondern in der theologischen Reflexion selbst konstruiert wird. Wenn damit die Subjektabhängigkeit des theologischen »Gegenstandes« betont werden soll, so werden Schnittmengen zu Ansätzen in der deutschsprachigen Systematischen Theologie, insbesondere zu liberaltheologischen Ansätzen, die hierzulande zum Teil epistemologisch noch viel entschiedener vom unhintergehbar konstruktiven Moment der Theologie ausgehen und das Ziel der Konstruktion auch nicht im System sehen. Aber selbst Denker wie Paul Tillich oder Wolfhart Pannenberg, die programmatisch »Systematische Theologie« betrieben haben, müssen von ihrem Theoriedesign her so verstanden werden, dass sie die systematische Erklärung des Glaubens nicht absolut setzen, sondern als eine geschichtlich bedingte Auslegungsform ansehen. Es ist nicht ausgemacht, dass die höhere Risikobereitschaft und die größere Nähe zu sozialen und politischen Entwicklungen der jeweiligen Gegenwart nur in solchen Theologien zu finden ist, die eine systematische Glaubensauslegung ablehnen. Auch könnte es sein, dass die konsequente Dekonstruktion kolonialer Denkstrukturen und die notwendige Kritik der Absolutsetzung von eurozentrischen, patriarchalen, fundamentalistischen oder anderen hierarchischen und machtbewussten Denkmustern nur möglich ist vor dem Hintergrund der konsequenten Einsicht in die unhintergehbare Perspektivität und dem menschlichen Hang zur Absolutsetzung des Eigenen gegenüber dem Anderen oder Fremden.
Dass im deutschsprachigen Bereich der Begriff der »constructive theology« bisher nicht etabliert, hat möglicherweise damit zu tun, dass er sich nicht leicht übersetzen lässt. Von »konstruktiv« wird zumeist in der Verbindung von »kritisch-konstruktiv« gesprochen. Damit wird eine Verfahrensweise im Rahmen systematisch-theologischer Urteilsbildung bezeichnet, aber keine Disziplin und kein theologisches Genre. Es könnte lohnend sein, den Dialog zwischen Dozierenden im Bereich Systematischer Theologie an deutschsprachigen Hochschulen und den Vertreterinnen bzw. Vertretern der »constructive theology« zu fördern, um die Schnittmengen und Unterschiede im Theologieverständnis auszuloten.

Friederike Nüssel (Heidelberg)

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