Buch des Monats: Juni 2015
Bedford-Strohm, Heinrich
Leben dürfen – Leben müssen. Argumente gegen die Sterbehilfe
Kösel 2015. 175 S. Geb. EUR 17,99. ISBN 978-3-466-37114-3
Das neue Buch von Heinrich Bedford-Strohm verdient in mehrfacher Hinsicht Interesse und kann in unterschiedlicher Perspektive gelesen werden. Es zielt auf eine aktuelle politische Diskussion von hohem ethischem Gewicht. Bedford-Strohm ist Vorsitzender des Rats der EKD und früherer Professor für Systematische Theologie. Das Buch wird als ein Beitrag zur ethischen und politischen Urteilsbildung das Interesse Systematischer Theologen und – hoffentlich – auch von Politikern finden. Zugleich verdient es – wie in vorliegender Besprechung – die Aufmerksamkeit der Praktischen Theologen und kirchlichen Öffent¬lich-keit. Denn es kann als exemplarischer Versuch verstanden werden, in einer demokratischen Zivilgesellschaft den kirchlichen Beitrag zu artikulieren.
Unter dieser Perspektive führt der bayrische Landesbischof vorbildlich vor, wie der Blick für konkrete Situationen und das Bemühen um klare Orientierung zwar in einer gewissen Spannung stehen, sich aber auch fruchtbar ergänzen können. Dass – entsprechend dem mehrfach zitierten Diktum Jesu zum Sabbat (Mk 2,27) – am Beginn mehrere Beispiele aus der pastoralen Praxis stehen, markiert eine wichtige Vorentscheidung. Der Vf. will trotz der Notwendigkeit klarer Orientierung eine unbarmherzige Gesetzlichkeit vermeiden: „… was immer wir als Ergebnis unseres Nachdenkens am Ende vertreten, muss auch Bestand haben angesichts der konkreten Leidensgeschichten von Menschen, die sterben wollen, und denen, die sie dabei begleiten“ (15 f.). Schlichte Alternativen, wie sie in den Begriffen „Selbstmord“ und „Freitod“ zum Ausdruck kommen, werden überzeugend zurückgewiesen. Demgegenüber vollzieht der Vf. in differenzierter Weise auf unterschiedlichen Ebenen Klärungen: zuerst bei der Begrifflichkeit (passive, indirekte und aktive Sterbehilfe), dann in rechtlicher Hinsicht, wobei der Blick neben Deutschland auch auf die Niederlande und Belgien mit ihren anderen Gesetzgebungen fällt. Danach folgt eine Systematisierung in ethischer Perspektive (Utilitarismus; individuelle und bedingte Autonomie; unbedingter und verantwortlicher Lebensschutz) die in eine Orientierung anhand der „jüdisch-christlichen Dimension“ mündet. In einem weiteren Durchgang behandelt der Vf. knapp Theoriebildungen verschiedener evangelischer Ethiker, bevor er ausführlicher kirchliche Stellungnahmen (einschließlich katholischer und orthodoxer) referiert und bespricht. Aus diesem mehrperspektivischem Zugang resultieren „fünf ethische Leitlinien“: „Dankbarkeit für das Leben“, „Endlichkeitsbewusstsein“, „Selbstbestimmung und Verantwortung“, „Kontextsensibilität“, „Sozialkulturelle Verantwortung“. Den Abschluss bilden eine knappe Positionierung hinsichtlich der aktuellen Diskussion im Deutschen Bundestag sowie ein knapper theologischer Ausblick.
Dass die Ausführungen kenntnisreich sind, ist gewiss nicht zu bestreiten. Mögliche Nachfragen – etwa zur Tragfähigkeit der mehrfach in Anspruch genommenen „ethischen Intuition“ (z. B. 62) oder zum negativen Untertitel (warum nicht positiv: „Argumente für die Begleitung Sterbender“?) – bestätigen den Charakter des Buches als Diskussionsbeitrag. Für den Weg von Kirche weist Bedford-Strohm einen verheißungsvollen Weg, indem er weder autoritativ allgemeine Normgebung beansprucht noch sich ins Private zurückzieht. Selbstbewusst und zugleich nachdenklich schöpft er ebenso aus den Einsichten evangelischer Seelsorge wie der Arbeit theologischer Wissenschaft. In dieser Form leistet evangelische Kirche tatsächlich einen originären und unverzichtbaren Beitrag zur ethischen und politischen Urteilsbildung in einer modernen Zivilgesellschaft. Das Buch eignet sich durch seine Prägnanz und Differenziertheit in der Argumentation auch gut als Grundlage zur Arbeit am Thema im Religionsunterricht der gymnasialen Oberstufe oder in der Erwachsenenbildung. Ein Musterbeispiel „Öffentlicher Theologie“!
Christian Grethlein