Buch des Monats: Oktober 2019

Hermann Spieckermann

Lebenskunst und Gotteslob in Israel. Anregungen aus Psalter und Weisheit für die Theologie = Forschungen zum Alten Testament, 91

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. X, 500 S. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-151915-4.

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Ein Aufsatzband als Buch des Monats? Auf den ersten Blick suggeriert das Inhaltsverzeichnis dieses Werkes, dass es sich hier um einen der üblichen Sammelbände handelt, der verschiedene bereits erschienene Beiträge eines Autors in Verbindung mit einem oder zwei noch nicht publizierten Aufsätzen zusammenstellt, um somit der Leserschaft einen leichteren Zugang zu den Texten zu verschaffen. Dieser oberflächliche Eindruck wird aber schnell korrigiert, und es zeigt sich, dass hier eine Zusammenstellung einzelner kleiner exegetischer Kunstwerke vorliegt, die sich zu einer kohärenten alttestamentlichen Theologie verbinden. Sie findet ihre Basis in dem komplexen Zusammenspiel zwischen alttestamentlichen Weisheitstraditionen und der Psalmenüberlieferung. Eine solche Verbindung von Weisheit und Gebet hat sich in der alttestamentlichen Überlieferung in einem komplexen Prozess »unter dem Druck jüdischer Identitätsschärfung seit dem Exil und der daraus resultierenden Zunahme der literarischen Produktivität« herausgebildet: »Gebete finden Eingang in Geschichtswerke, Prophetie und Weisheit, während weisheitliche Redeformen und Reflexionen auch die Welt des Betens bereichern« (5).
Lebenskunst und Gotteslob bilden, wie es Hermann Spieckermann in seiner Einleitung darlegt, die beiden »Brennpunkte einer Ellipse, die exemplarisch für das Ganze der Gott-Welt-Mensch-Beziehung zu stehen vermag« (5). »Lebenskunst« besteht nach der Weisheit im sorgsamen Beobachten der Ordnungen der Welt, die Gott dieser eingestiftet hat und dem Ausrichten der eigenen Praxis nach diesen göttlichen Ordnungen. Da die Gottesbeziehung der Ursprung und die Gabe des Lebens darstellt und den Menschen aus seiner Selbstbezüglichkeit befreit, bedeutet »Lebenskunst«, wie sie sich in der biblischen Vorstellungswelt durch die weisheitlichen Traditionen darstellt, die »dankbare Erschließung und Pflege des Beziehungsreichtums zwischen Schöpfer, Schöpfung und Geschöpf« (5). Speist sich das Handeln des Menschen so letztlich aus der Gottesbeziehung, so führen ihn seine Erfahrungen hin zum Gebet als einer Form des Sprechens zu Gott, sei es, weil er für das gelingende Leben danken oder aber das Misslingen beklagen will. Der Mensch wird nicht allein als kognitives, sondern zugleich als kommunikatives Wesen wahrgenommen. »In der dankenden und lobenden Kommunikation wird Gott über die erkennbar gute Ordnung als Stifter der Wunder adressiert, von denen die Weisheit durchaus Kenntnis hat. Hier drängt sich der Kontakt zwischen Weisheit und Gotteslob geradezu auf« (32). Lob und Dank, aber auch der Klage, welche nach dem fernen Gott ruft, kommen somit eine ganz fundamentale Bedeutung zu. Letztlich ist es aber – bei aller unverzichtbaren Bedeutung der Lebenskunst – »Gottes rettende und heilsame Gegenwart, die dem Unheil wehrt, nicht des Menschen eigene Kraft, auch nicht seine Weisheit« (7). So bildet der rettende Gott, sei er in der Nähe oder der Ferne, das theologische Zentrum der Gebete. Klage und Bitte wollen aus der Not zurück in die Gottesnähe, und das Lob, die eigentliche Basis des Psalters, umfängt alles Klagen. Lebenskunst und Gotteslob sind nicht zu trennen: »Die Gebete halten im Bewusstsein, dass gelingendes Leben das ganz und gar Nicht-Selbstverständliche ist, vielmehr Wunder und Geschenk in der Welt der Bedrohung, die sowohl von gottebenbildlichen Geschöpfen wie von Agenten des Bösen ausgeht« (25).
Diese Grundlinien einer alttestamentlichen Theologie entfaltet der Autor, gleichsam als bündelnde Zusammenschau des Werkes, in einem ersten, langen Kapitel, das, wie der Titel des gesamten Buches, mit »Lebenskunst und Gotteslob« überschrieben ist (1–37). Hier finden sich auch grundlegende Ausführungen zum Untertitel des Werkes. An der Stelle, an der sich in anderen Sammelbänden häufig der Begriff »Studien« findet, verwendet der Autor den Terminus »Anregungen«. Dabei macht er deutlich, dass dieser Ausdruck nicht zur Umschreibung von »Beiläufigkeiten« dient, sondern vielmehr auf substantielle Beobachtungen abzielt, die die Theologie als »Teilunternehmung einer christlichen Theologie« »neu beleben und bereichern« sollen (32). Der Blick auf den rettenden Gott weitet nämlich den Horizont des Werkes dahingehend, dass alttestamentliche Theologie als Teil einer christlichen Theologie zu begreifen ist, und so führen die Darlegungen des Autors hin zum Motiv der göttlichen Verheißung neuer Rettung, die Gottes Zuwendung und Heil zu den Völkern bringen wird (36). Hier klingt schließlich auch ein wichtiges dialogisches Moment an, denn es gibt »unstrittig jüdische Interpretation der autoritativen hebräischen und griechischen Schriften ohne Berücksichtigung der christlichen Interpretation. Es gibt aber kein Verständnis der neutestamentlichen Schriften ohne Wahrnehmung und Bewahrung ihrer jüdischen Wurzeln im Alten Testament und den dazugehörigen Schriften« (37).
Was in diesem einleitenden Kapitel systematisch in einer Art Zusammenschau dargelegt wird, findet dann in drei Buchteilen seine Entfaltung, wobei wiederum jeder dieser drei Teile sieben einzelne Studien umfasst. Einige dieser Arbeiten wurden bereits veröffentlicht, aber nun im Hinblick auf die Kohärenz des gesamten Bandes überarbeitet und z.T. auch mit neuen Titeln versehen. Abschnitt I: »Lebenskunst zwischen Kairos und Krisis: Die Weisheit« (41–183) umfasst Studien zu den Prologen der atl. Weisheitsbücher, zu den Proverbien, zu Hiob (»Die Satanisierung Gottes«), zu Kohelet, Jesus Sirach und zur Sapientia Salomonis sowie zum 4. Makkabäerbuch (»Theologie als Philosophie«). Der zweite Teil »Gotteslob zwischen Nacht und Tag: Der Psalter« (187–299) nähert sich dann den Psalmen aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln an. So zeigt u. a. der Beitrag »Gott und die Nacht. Gottes Welt und das Chaos« (187–196) welches Gefährdungspotential die Nacht im Denken der Hebräischen Bibel zukommt und wie diesem in den Psalmen durch die »Hoffnung gegen die Anfechtung« begegnet werden kann: »Der Beter weiß: Gott schenkt solche Gebete in der Nacht, Gebete in dem Dunkel, das seit der Schöpfung seine unklare Nähe zur chaotischen Finsternis nicht verloren hat. Zugleich ist sie kein Raum, den Gott tatenlos an andere Mächte preisgäbe. Seine dagegen gerichteten Waffen sind freilich eigener Art: geschenkte Gebete in der Nacht. Gebete vom und für den lebendigen Gott, dessen leuchtendes Angesicht Rettung meines Angesichts ist. Gerettetes Leben von Angesicht zu Angesicht – das ist die Botschaft der Psalmen in der Nacht gegen Chaos, Finsternis und Tod« (196). Weitere Studien innerhalb dieses Abschnittes widmen sich der Theologie vom Königtum Gottes und dessen Verinnerlichung im Herz des Menschen (»Der theologische Kosmos des Psalters. Gottes Thron in der Welt des Betens, 197–216) sowie verschiedenen Formen des Sprechens mit Gott in den Psalmen (»Rede Gottes und Wort Gottes. Die Entdeckung der Antwort Gottes im Gebet«, 217–231); Schweigen und Beten. Von stillem Lobgesang und zerbrechender Rede im Psalter«, 232–246). Der Beitrag »Hymnen im Psalter. Ihre Funktion und ihre Verfasser« (247–269) macht deutlich, dass der Hymnus als eine theologische Denkform interpretiert werden kann, durch den Priester und Schriftgelehrte sich in die Theologie des Gotteslobes einüben können (269). Von besonderer Bedeutung ist der Beitrag »Lob Gottes aus dem Staube. Psalm 103 als Quintessenz der Theologie des Gotteslobes« (270–285), insofern hier der theologischen Bedeutung des Engellobs nachgespürt wird und somit ein zentrales, aber viel zu selten beachtetes Motiv im Gebet Aufmerksamkeit findet. Dem »Staubgebilde« Mensch, schuldbelastet und beziehungsunwillig, gewährt Gott seine Zuwendung, sodass es mit den himmlischen Heerscharen Gott loben will.
»So schwingt sich das Staubgebilde, das sich eingangs mit der Aufforderung der eigenen Seele zum Lob beschieden hatte, auf zum Chormeister aller Mächte: der mythischen Boten und Gewaltigen, der himmlischen Heerscharen und Diener, der Schöpfungen und Geschöpfe an allen Orten im Himmel wie auf Erden im göttlichen Königreich. Hier erliegt das Staubgebilde nicht schon wieder seiner Selbstverliebtheit. Vielmehr bleibt das Staubgebilde nicht bei sich selbst, sondern gibt sich seiner göttlichen Bestimmung hin. In den Versen 19–22 vereinigen sich Erdenstaub und Sternenstaub im Preis der Güte Gottes. [...] Im Lob seines heiligen Namens ist der Unterschied zwischen Staubgeburten und himmlischen Heerscharen, zwischen Zeit und Ewigkeit aufgehoben. Im Lob seines heiligen Namens gewinnen Gottes Schöpfungen und Geschöpfe ihre frevelhaft verspielte Ewigkeit zurück. Im Wunder der Vergebung wird Nähe Gottes wieder neu.« (284)

Abgerundet wird die Sammlung durch den dritten Hauptteil, der die beiden Pole zusammenbindet und mit »Alttestamentliche Theologie als Gotteslob und Lebenskunst« überschrieben ist (303–418). Der Autor macht deutlich, dass die Theologie in keiner ihrer Disziplinen auf die Wahrheitsfrage verzichten kann (»Das heutige Bild der Religionsgeschichte Israels. Eine Herausforderung alttestamentlicher Theologie?«, 303–323). Ein weiterer Beitrag betont die Bedeutung der weisheitlichen Traditionen für die alttestamentliche Theologie (»Gott im Gleichnis der Welt. Die weisheitliche Wurzel alttestamentlicher Theologie«, 343–360) sowie deren ethische Implikationen (»Schöpfung, Gerechtigkeit und Heil. Der Horizont alttestamentlicher Theologie«, 361–380). Nach weiteren Darlegungen zum Gotteslob in der Spanne zwischen Nähe und Ferne Gottes (»Der nahe und der ferne Gott. Das Spannungsfeld des Gotteslobes«, 381–398) und zur ökonomischen Dimension der weisheitlichen Vorstellungswelt (»Gott und Mensch am Markt. Das Spannungsfeld der Lebenskunst«, 398–417) wendet sich der Autor schließlich auf der Basis einzelner Psalmen (so z. B. Ps 69; Ps 71) und des Jesajabuches (insbes. der Schluss des 4. Gottesknechtslied Jes 53,11 f.) der alttestamentlichen Hoffnung auf die nahende Gerechtigkeit zu. Dabei geht der Blick über den hebräischen Kanon hinaus, insofern ausgehend von der Sapientia Salomonis (SapSal 2,12–23) der Blick zu den Heilsvisionen des Neuen Testaments eröffnet wird. Dort soll dann mit der Vorstellung von der Menschwerdung Gottes eine »verbindenden Mitte« der unterschiedlichen Heilsvisionen der alttestamentlichen Überlieferung geschaffen werden (»Der Retter ist nah. Die Verheißung alttestamentlicher Theologie«, 418–435).
Diese gesamtbiblische Ausrichtung überrascht bei dem Autor, der gemeinsam mit dem Neutestamentler Reinhard Feldmeier den Band »Der Gott der Lebendigen« eine »biblische Gotteslehre« (Erstveröffentlichung Tübingen 2011) publiziert hat, nicht. Speziell für die alttestamentliche Wissenschaft bemerkenswert ist darüber hinaus, dass das Werk durch seine Gesamtstruktur einen interessanten Zugang zu einer »Theologie des Alten Testaments« schafft, der gängige Alternativen einer systematischen oder narrativen Erschließung überwindet. Zwar lässt sich der Gesamtentwurf durchaus als systematische Entfaltung einer alttestamentlichen Theologie beschreiben – durch die einzelnen Aufsätze, die sich durch ihre poetisch anmutende Diktion auszeichnen, entsteht letztlich aber der Eindruck eines Mosaiks, dessen Einzelteile in einem komplexen Beziehungsgeflecht zueinander stehen und sich gegenseitig beleuchten.
Dass die Psalmen poetische Texte von einer großen ästhetischen und existentiellen Strahlkraft sind, gehört zu den basalen Grundeinsichten der Psalmenforschung. Die große und unverwechselbare Leistung dieses Werkes besteht freilich darin, diese große Literatur nicht nur exegetisch sachgemäß erschlossen zu haben, sondern diese Auslegungen auch in einer Sprache zu formulieren, die von einer hohen sprachlichen Eleganz und Schönheit ist. Durch die dichterische Qualität seiner Sprache gelingt es dem Autor auf ganz besondere Art und Weise, die alttestamentlichen Texte in ihrer theologischen Bedeutung und Gültigkeit für die menschliche Existenz nachhaltig zum Sprechen und Klingen zu bringen: Nimm und lies ...

Beate Ego (Bochum)

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