Buch des Monats: April 2014

Kaufmann, Thomas

An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung.

Mohr Siebeck: 2014. XV, 559 S. 24,0 x 16,3 cm = Kommentare zu Schriften Luthers, 3. Lw. EUR 169,00. ISBN 978-3-16-152678-7.

Vor mehr als drei Jahrzehnten klagte Eberhard Jüngel, er begreife nicht, „wozu das ganze Ausmaß an Luther-Forschung gut sein soll, wenn die sowohl vordergründigste wie tiefgründigste Aufgabe einer exegetischen Kommentierung der Hauptschriften offensichtlich nicht einmal als Aufgabe wahrgenommen, geschweige denn in Angriff genommen wird“ (E. Jüngel, Zur Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift [KT 30], 1978, 54 Anm. 1).
Inzwischen hat sich die Lage allerdings gründlich gewandelt. Neben etlichen Auslegungen kleinerer Luthertexte trugen dazu insbesondere Gerhard Ebelings dreibändiger Kom-mentar zu den 1536 verfassten Disputationsthesen De homine bei sowie in anderer, streng historischer Weise die seit 2007 in loser Folge erscheinende Serie der „Kommentare zu Schriften Luthers“. Als dritten Band dieser Reihe legte der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann soeben einen kapitalen Kommentar zu Luthers Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, kurz: zu Luthers Adelsschrift vor.
Kaufmann wertet die Adelsschrift als das weit über die Bedeutung der 95 Thesen von 1517 hinausgehende klassische Initialdokument der von Luther angestoßenen Reformation. Erst mit diesem Text habe Luther unhintergehbar deutlich gemacht, „dass er eine Verständigung mit der römischen Kirche für undenkbar hielt“ (14), und damit eine historisch analogielose „Zäsur innerhalb der Geschichte lateineuropäischen Kirche und die einschneidendste Umgestaltung wesentlicher ihrer Ordnungen und Lehren“ (V) heraufgeführt.
Die Adelsschrift wurde innerhalb weniger Wochen abgefasst und erschien wohl in den ersten Augusttagen des Jahres 1520. Die mit 4.000 Exemplaren ungewöhnlich hoch bemessene erste Auflage war bereits zum Monatsende ausverkauft. Für die folgenden Monate lassen sich 14 weitere Einzel- und Teildrucke nachweisen, die neben Wittenberg in Augsburg, Basel, Leipzig, München und Straßburg hergestellt wurden und deren Summe zu der Feststellung berechtigt, „dass sich kein Autor 1520 besser verkaufen ließ als Luther“ (33 Anm. 163). Diese enorme Breitenwirkung blieb allerdings auf den deutschen Sprachraum beschränkt und war nur von relativ kurzer Dauer, weil bereits kurz danach weitere Schriften des Reformators so-wie „der päpstliche Bann und Luthers Verbrennung des kanonischen Rechts größte Aufmerksamkeit auf sich zogen“ (37). Die Publizistik des altgläubigen Lagers reagierte umgehend: bereits im Oktober 1520 Johannes Eck, wenig später dann mit eingehenden Gegenschriften die Kontroverstheologen Thomas Murner und Hieronymus Emser, der letztere übrigens in absatzweise fortschreitender Zitation und Kommentierung der gesamten Schrift Luthers.
Auf dem neuesten Forschungsstand rekonstruiert die straffe „Einleitung“ Kaufmanns die Entstehungsgeschichte der Adelsschrift, informiert sodann bündig über deren Motiv-, Text- und Druckgeschichte und bietet ausgewählte Hinweise zur weiteren Rezeptionsgeschichte. Dabei vermag Kaufmann den Nachweis zu führen, dass die heute übliche Rede von den lutherischen „Hauptschriften“ des Jahres 1520, zu denen man neben der Adelsschrift die Babylonica und den Traktat Von der Freiheit eines Christenmenschen, gelegentlich auch die Schrift Von den guten Werken zu zählen pflegt, erst im Verlauf des späteren 19. Jahrhunderts entstanden und solche Kanonisierung „dem Verständnis für die Kontextualität der Adelsschrift an ihrem historischen Ort“ (45) keineswegs günstig gewesen ist.
Die detaillierte, sich über 460 Seiten erstreckende Exegese der Adelsschrift folgt der Textgestalt der Weimarer Ausgabe (WA 6, 404–469), deren Abweichungen von den beiden Wittenberger Erstdrucken allerdings wieder rückgängig gemacht worden sind. Fachkundig erläutert die Kommentierung jedes sinntragende Wort, wofür Kaufmann einerseits auf das Gesamtwerk Luthers, bevorzugt auf dessen zeitlich und sachlich benachbarte Teile, zurückgreift, andererseits aber auch in breitester Stoffkenntnis auf die zeitgenössische und vorausgehende kirchliche Reformliteratur sowie auf zahlreiche Quellen der kirchlichen Rechts- und Theologiegeschichte, zudem in wohldosierter Pointierung auf die einschlägige Forschungsliteratur. Mit besonderer Sensibilität widmet er sich dazu durchgängig den lexischen, semantischen und syntaktischen Besonderheiten der Sprache Luthers. Dergestalt repräsentiert dieser Kommentar zu einer der wichtigsten Schriften des Reformators einen Ausbund an historischer akribie, philologischer Präzision und stupender Gelehrsamkeit.
Die Lektüre des Kommentars erfordert hohe, ungeteilte Konzentration, vermag dann freilich auch in unübertrefflicher Weise die textuelle Tiefen- und kontextuelle Breitendimension dieser Schrift zu erschließen. Den Vergleich mit den besten biblischen Kommentarwerken braucht diese elementare Lutherstudie denn auch in keiner Hinsicht zu scheuen. Wer sich auf sie einlässt, dürfte den Verfasser der Adelsschrift dann seinerseits, wie vor ihm der Kommentator, als einen „ideale[n] Begleiter“ kennenlernen: „meist irritierend interessant, häufig provozierender als erwartet, nicht selten befremdlich in seiner Kritik und Polemik, gelegentlich kühn in seinen Unterstellungen, spannungsreich in seinen Widersprüchlichkeiten, merkwürdig in seinen Schlussfolgerungen, immer aber faszinierend in seiner sprachlichen Potenz“ (VII).
Dass dieser Kommentar eine exzeptionelle wissenschaftliche Leistung darstellt, steht außer Frage. Zugleich mag er freilich auch als ein impliziter Mahnruf im Vorfeld des 2017 zu begehenden Reformationsgedenkens verstanden sein. Jedenfalls werden sich die Organisatoren des anstehenden kirchlichen Jubeljahres zu einer Antwort auf die Frage gedrängt sehen, ob sie der damit verbundenen Memorialpflicht in analoger, konsequent historischer Seriosität zu genügen oder sie, wie Kaufmann in freundlicher Kritik an dem Essay eines Kollegen monierte, „eher über die Probleme hinweg tänzelnd“ (27 Anm. 145) zu ermäßigen willens sind.

Albrecht Beutel, Münster/Westf.

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