Buch des Monats: Juni 2012

Benyoëtz, Elazar

Sandkronen. Eine Lesung.

braumüller: Wien 2012. 365 S. Geb. EUR 24,90. ISBN 978-3-99200-055-5.

Dieses Buch fällt aus der Reihe dessen, was wir an dieser Stelle zu besprechen pflegen. Aber nachdem vor kurzem das Spektakel eines deutschen Dichters zu erleben war, der seine politischen Befürchtungen im Blick auf Israel in poetische Form gießen zu müssen meinte, um sie massenmedial zu verbreiten, dürfte es erlaubt und angemessen sein, auf einen wirklichen Dichter deutscher Sprache, und zwar aus Israel, hinzuweisen.
Fünf Jahre nach seinem letzten Hauptwerk Die Eselin Bileams und Kohelets Hund (Hanser 2007) und nach den Aphorismen¬bänden Scheinheilig (Braumüller 2009) und Fraglicht (Braumüller 2010) hat Elazar Benyoëtz im März anlässlich seines 75. Geburtstags einen neuen Gedichtband vorgelegt: Sandkronen. Eine Lesung. 1937 als Paul Koppel in Wiener Neustadt geboren, lebt Benyoëtz seit 1939 in Tel Aviv und Jerusalem. Obwohl seine Muttersprache Hebräisch ist, schreibt er seit Ende der sechziger Jahre vorwiegend auf Deutsch. Seine präzisen, pointierten, phrasen¬freien und phäno¬men¬genauen Aphorismen und Dichtungen bringen die deutsche Sprache in einer Weise zum Klingen, wie das heute kaum einem anderen gelingt. Für seine Ver¬dienste um die deutsche Sprache hat er 1997 den Verdienstorden der Bundes¬republik Deutschland und 2008 das Österreichische Ehrenkreuz für Wissen¬schaft und Kunst I. Klasse erhalten.
Der genaue Blick, das aufmerksame Hinhö¬ren, das knappe und treffende Sagen, das virtuose Spiel mit den Formen in Sen¬tenz, Spruch und Gedicht zeichnen auch dieses neue Buch aus. Mit wenigen Worten wird viel gesagt: über das Leben („Meine Jahre eilen mir voraus, / meine Tage / lassen mich zurück“ [13]), den Glauben („Man kann vom Glauben abfallen, / von Gott sich aber nicht abwenden“ [307]), Gott („Gott überzeugt mich nicht, / darum kann ich an ihn glauben“ [175]), die Sprache („Auf dem Weg zum Satz / ist jedes Wort von Bedeutung“ [37]), den Dichter („Meine Worte erwarten, / dass ich Vertrauen zu ihnen wecke“ [71]), den Menschen („Geht man mit der Zeit, / ist man rasch zu Ende“ [239]), die Religion („Westlich gesehen / gibt es Religion nur im Osten“ [166]), die Bibel („Die Bibel handelt nicht von Gott, / sondern vom Handeln Gottes / und ist darum auch seine Heilige Schrift“ [119]), den Übersetzer („Auch übersetzend / kommt man zum Glauben, / und dieser Glaube / ist doch kein übersetzter. / Luther zwang die Bibel, / ihm zu glauben; / so entstand die Lutherbibel“ [75]), die Theologie („Widersacher der Theologie/ ist Gott selbst // Gott verteidigt / seine Herrschaft / durch allumfas¬sende Ohnmacht, / denn er ist der Allmächtige“ [110]), die Wahrheit („Wahrheit hat immer / alle Wahrscheinlichkeit / gegen sich“ [179]), das Wissen („Wissen ist ein gefällter Baum, / der seine Ringe zeigt“ [226]), die Endlichkeit („Mein Leben geht mir durch den Kopf, / es kann nicht lange gehen“[308]), den Tod („Ich muss meine Zeit / in wenigen Minuten verlassen“ [358]).
Kaum ein Gedicht, das nicht Unerwartetes zum Aufleuchten bringt und Stocken macht. Immer wieder lässt sich Benyoëtz von Zitaten anderer inspirieren, von Hannah Arendt, Hölderlin und Lessing, von Hamann, Paul Klee und Marc Aurel, von Ludwig Feuerbach, Max Stirner, Eugène Delacroix und vielen mehr. „Zitate sind die Blumen, / durch die man seine Liebe erklärt“ (11), heißt es am Anfang. Sie sind keine nur äußerlich herangezogenen Lesefrüchte eines umfassend gebildeten Dichters, sondern Kon¬zentrate durchdachter und durchlebter Einsichten. Diese „fernhintreffenden Sprüche“ (Hölder¬lin) werden nicht um ihrer selbst willen zitiert. In kunstvoller Einfachheit gelingt es Benyoëtz, die Zitate als Pfade zum Leser zu gestalten. Seite um Seite tut sich so ein weites Feld von Bezügen auf, in dessen Zentrum Fragen des Lebens stehen, die im Fortspinnen von Fäden der biblischen Tradition in klarer und schnörkelloser Sprache beschrieben und bedacht werden. Auf vieles Vertraute fällt da ein unerwartetes Licht, vermeintlich Bekanntes bekommt einen anderen und neuen Klang, ohne falsches Pathos, frei von Klischee, nicht selten mit treffsiche¬rem Witz. Man kann in diesem Buch lange lesen, und sollte es auch. Es ist als Abschieds¬lesung angelegt, die ein weites Spektrum von Themen bündelt und so etwas wie eine Summe darstellt. Ein Buch zum Hin- und Her¬lesen, zum Verweilen, und zum noch einmal Lesen. „Zur Lesung denke man sich die Losung hinzu./ Die Augen des Lesers folgen nicht dem Ruf. / Jeder wird sein Wort zu hören bekommen, / möge keiner sein Wort verschlafen“. Tolle lege.

Ingolf U. Dalferth (Zürich/Claremont)

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