Buch des Monats: Oktober 2022

Kraus, Wolfgang, Tilly, Michael, u. Axel Töllner [Hgg.]

Das Neue Testament – jüdisch erklärt. Lutherübersetzung.

Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2021. 984 S. Geb. EUR 58,00. ISBN 9783438033840

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Die Einsicht, dass die Ursprünge der christlichen Religion im Kontext des Judentums der Zeit des Zweiten Tempels, konkret im 1. Jahrhundert n. Chr., zu verorten sind, wurde bereits von Vertretern der »Wissenschaft des Judentums« im 19. Jahrhundert formuliert, und es ist das Verdienst einer Vielzahl von jüdischen und christlichen Gelehrten diese allgemeine Erkenntnis in den letzten Dekaden in zahlreichen Einzelstudien materialiter entfaltet und der Fachwelt zugänglich gemacht zu haben. Nachdem in der christlichen Exegese viele Jahre die sog. Prophetenanschlusstheorie vorherrschend war, die Jesus von Nazareth mit seiner Lehre als einen direkten Nachfolger der vorexilischen Prophetie und die Zeit des antiken Judentums als eine Epoche des erstarrten Epigonentums verstand, erfolgte so eine Rehabilitierung dieser Epoche, insofern sie in ihrer intellektuellen und rituellen Vielfältigkeit und Lebendigkeit eine neue Wertschätzung erfuhr.
Dabei waren es zunächst vor allem jüdische Gelehrte, die einen neuen, unverstellten Zugang auf Figuren wie Jesus von Nazareth, Paulus oder Maria und die Welt des Neuen Testaments wagten, so z. B. Joseph Klausner (1874–1958). Auf christlicher Seite fungierte in diesem Kontext der Jüdisch-Christliche Dialog als ein bedeutender Impulsgeber, der in den letzten Dekaden, vor allem in dem Bemühen um eine Auseinandersetzung mit den Ereignissen der Schoah, innerhalb der theologischen Diskussion eine bedeutende Rolle einnehmen konnte.
In diesen großen Rahmen, und als eine Frucht all dieser Bemühungen sowohl auf jüdischer als auch auf christlicher Seite fügt sich das hier vorliegende Werk »Das Neue Testament jüdisch erklärt«. Das Werk kann auf eine mehr als zehnjährige Geschichte zurückblicken: Bereits im Jahre 2011 erschien in den USA das »Jewish Annotated New Testament«. Unter der Herausgeberschaft von Amy-Jill Levine (Vanderbilt University Divinity School) und Marc Zvi Brettler (Duke University) verfasste hier erstmalig in der Geschichte eine Gruppe von jüdischen Gelehrten eine vollständige Kommentierung des Neuen Testament, die von grundlegenden Essays zu historischen, religionsgeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Themen sowie zur Rezeption des Neuen Testaments im jüdischen Kontext begleitet wird. Das Werk, an dem damals ungefähr 50 jüdische Gelehrte vor allem aus den USA beteiligt waren, richtete sich sowohl an ein jüdisches als auch ein christliches Publikum, indem es sich zum Ziel gesetzt hatte, sowohl die jüdische Vertrautheit mit dem Neuen Testament als auch das christliche Bewusstsein für den jüdischen Kontext des Neuen Testaments zu fördern. Aufgrund des großen Erfolgs der Publikation legten die Herausgeber unter Beteiligung eines erweiterten Mitarbeiterkreises bereits im Jahre 2016 eine überarbeitete Version vor.
In diesem breiten Kontext ist es nun das Verdienst der Neutestamentler Wolfgang Kraus (vor der Emeritierung Universität des Saarlandes) und Michael Tilly (Universität Tübingen) sowie des Pfarrers und Spezialisten für das Jüdisch-Christliche Gespräch Axel Töllner (Institut für Christlich-Jüdische Studien an der Kirchlichen Hochschule Neuendettelsau), in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bibelgesellschaft eine deutsche Übersetzung dieses epochalen Werkes vorgelegt zu.
Förderer des Projekts waren die Stiftung Stuttgarter Lehrhaus; Begegnung von Christen und Juden, Bayern; die Evangelische Kirche in Deutschland sowie verschiedene Evangelische Landeskirchen (so Baden, Bayern, Hannover, Mitteldeutschland, Pfalz, Rheinland, Westfalen, Württemberg); der Evangelische Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen-Nassau sowie das Institut für christlich-jüdische Studien und Beziehungen an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Als Übersetzer wirkten Monika Müller und Jan Raithel.
Ungefähr zwei Drittel des Bandes (3–615) bieten den Text des Neuen Testaments. Während die englische Ausgabe auf der Grundlage der »New Revised Standard Version« basiert, liegt der deutschen Ausgabe die revidierte Lutherbibel von 2017 zugrunde. Dabei werden die einzelnen Bücher in knappen Essays im Hinblick auf grundsätzliche Einleitungsfragen eingeführt und der Text selbst wird kursorisch in zahlreichen Fußnoten kommentiert. Diese enthalten Sacherklärungen sowie zahlreiche Verweise auf einschlägige Parallelen aus der jüdischen Tradition. Neben Referenzen auf die Hebräische Bibel verweisen diese Anmerkungen auf Belege aus der Septuaginta, den Apokryphen und Pseudepigraphen, den Texten vom Toten Meer, aus Philo, Josephus, aus den griechisch-römischen Quellen und aus der rabbinischen Literatur. Wenngleich es aus Platzgründen nicht möglich war, diese Texte auch im Einzelnen zu entfalten, so wird den Rezipienten dieses Werkes doch wichtiges Basismaterial geboten, um die entsprechenden Passagen religionsgeschichtlich und theologisch zu kontextualisieren.
In der Regel wurden die englischen Übersetzungen direkt ins Deutsche übertragen, und nur die Stellen, die sich direkt auf die Übersetzung des Bibeltextes beziehen, wurden an die Lutherbibel angeglichen. Infoboxen geben darüber hinaus knapp zu schwierigen Wendungen oder wichtigen exegetischen Sachverhalten Auskunft, so – um hier nur einige Beispiele zu nennen – zu der Wendung »Schrei des Blutes« (vgl. Mt 27,15), »Kinder des Teufels« (Joh 8,44), zu den Juden und dem Tod Jesu bei Lukas (Lk 23,18–25) oder zu den »Pfropfen des Ölbaums« (Röm 11,17–24). Mehrere Landkarten (u. a. zur Geographie der verschiedenen Evangelien oder zu Orten der frühchristlichen Mission) erhellen zudem die geographischen Zusammenhänge.
Der zweite Teil des Werkes besteht dann aus insgesamt 58 thematisch ausgerichteten mehrseitigen Essays. Hier findet sich eine Erweiterung gegenüber der englischen Vorlage, um der spezifischen Situation in Deutschland und Europa Rechnung zu tragen (so eine Ergänzung zum Thema »Messianisches Judentum« durch die deutschen Herausgeber sowie die Beiträge von Jehoschua Ahrens, Daniel Alter, Micha Brumlik und Walter Homolka). Die großen Themen, die hier abgehandelt worden sind: »Geschichte«, »Gesellschaft«, »Strömungen und Gemeinschaften«, »Juden und Nichtjuden«, »Glaubenspraxis«, »Glaubensvorstellungen«, »Jüdische Literatur / Literarische Quellen«, »Reaktionen auf das Neue Testament« und »Zur Situation in Deutschland und Europa«.
Zum Einzelnen: Die erste Gruppe dieser Essays konzentriert sich dabei unter der Überschrift »Geschichte« auf die historischen Zusammenhänge, in der die neutestamentlichen Texte entstanden sind bzw. auf die beiden unmittelbar davorliegenden Jahrhunderte, so: »Der griechisch-römische Hintergrund des Neuen Testaments« (Erich S. Gruen), »Jüdische Geschichte von 331 v. u. Z. bis 135 u. Z.« (Martin Goodman) und »Aufstände gegen Rom (Eric M. Orlin). Unter der Überschrift »Gesellschaft« versammelt der Band die folgenden Essays: »Jüdisches Familienleben im 1. Jh. u. Z.« (Ross S. Kraemer), »Judentum und jüdische Identität« (Shaye J. D. Cohen), »Ioudaios« (Joshua D. Garroway), »Archäologie des Landes Israel zur Zeit Jesu« (Jodi Magness), »Der Sanhedrin« (David Goodblatt), »Jüdisches Familienleben im ersten Jahrhundert u. Z.« (Ross S. Krämer), »Ehe und Ehescheidung« (Michael L. Satlow), »Geschlecht und Geschlechterrelation« (Tal Ilan). Unter »Strömungen und Gemeinschaften« wird die soziale Vielfalt des antiken Judentums plastisch herausgearbeitet: »Strömungen innerhalb Judentums in neutestamentlicher Zeit« (Daniel R. Schwartz), »Die Pharisäer« (Lawrence H. Schiffman), »Messianische Bewegungen« (David B. Levenson), »Der historische Jesus« (Sarah J. Tanzer), »Paulus und das Judentum« (Paula Fredriksen), »Judaisierer, Judenchristen und andere« (Charlotte Elisheva Fonrobert). Die Frage, wie sich das Judentum zur Zeit Jesu nach außen hin abgrenzt bzw. an den Rändern durchlässig ist, widmen sich weitere Beiträge, so: »Jüdische Perspektiven auf Nichtjuden« (Meir Ben Shahar), »Der ,Nächste‘ in der jüdischen und christlichen Ethik« (Michael Fagenblat), »Speisen und Mahlgemeinschaft« (David M. Freidenreich), »Die Birkat ha-Minim: eine jüdische Verwünschung der Christen?« (Ruth Langer). Das Stichwort »Glaubenspraxis« umfasst Themen wie »Das Mosegesetz« (Jonathan Klawans), »Opferkult und Tempel« (Naphtali Meshel), »Die Synagoge« (Lee I. Levine), »Das Gebet« (Avigdor Shinan), »Zeitrechnung, Kalender und Feste« (Sacha Stern), »Beschneidung« (Lawrence Hoffmann), »Taufe und Eucharistie« (Isaak W. Oliver) und »Die Bestattung Jesu: Texte und archäologische Befunde« (Steven Fine). Verschiedenen Glaubensvorstellungen widmen sich dann die folgenden Essays: »Jüdische Wundertäter und Zauberei in der Spätzeit des Zweiten Tempels« (Geza Vermes, bearbeitet von Gideon Bohak), »Übernatürliche Wesen« (Rebecca Lesses), »Logos als ein jüdisches Wort« (Daniel Boyarin) und »Auferstehung und Jenseitsvorstellungen« (Martha Himmelfarb). Weitere Essays lassen sich unter dem Stichwort »Jüdische Literatur / Literarische Quellen« zusammenfassen: »Der Kanon des Neuen Testaments« (Michael R. Greenwald), »Die Sprache des Neuen Testaments und die Übersetzung der Bibel« (Naomi Seidman), »Die Septuaginta« (Leonard Greenspoon), »Midrasch und Gleichnisse« (David Stern), »Die Schriftrollen vom Toten Meer« (Menahem Kister), »Philo von Alexandria« (David Satran), »Flavius Josephus« (Jack Pastor), »Das Neue Testament zwischen dem Tanach und der rabbinischen Literatur« (Marc Zvi Brettler), »Überlegungen aus jüdischer Sicht zum christlichen Selbstverständnis« (Jacob Neusner) und »Schriftverheißung und Erfüllung« (Ruth Sheridan). Dann folgen Beiträge zu Reaktionen auf das Neue Testament: »Jüdische Reaktionen auf die Anhänger Jesu« (Claudia Setzer), »Jesus in der rabbinischen Tradition« (Burton L. Visotzky), »Jesus in der mittelalterlich-jüdischen Tradition« (Martin Lockshin), »Jesus im modernen jüdischen Denken« (Susannah Heschel), »Paulus im jüdischen Denken« (Daniel R. Langton), »Maria in der jüdischen Tradition« (Daniel J. Lasker), »Jesus und das Neue Testament in der modernen jiddisch- und hebräischsprachigen Kultur« (Matthew Hoffman), »Das Neue Testament in der jüdischen Kunst« (Marc Michael Epstein), »Grundfragen der Christologie« (Randi Rashkover), »Messianisches Judentum« (Yaakov Ariel), »Falsches Zeugnis geben: Verbreitete Irrtümer über das antike Judentum« (Amy-Jill Levine, mit Marc Zvi Brettler) sowie »Das Neue Testament und die jüdisch-christlichen Beziehungen« (Ed Kessler). Der Reigen der Beiträge schließt mit Ausführungen zur Situation in Deutschland und Europa: »,Ertragen können wir sie nicht‘ – Martin Luther und die Juden« (Walter Homolka), »Franz Rosenzweig und Luthers Bibelübersetzung« (Micha Brumlik), »Zum jüdisch-christlichen Dialog im deutschsprachigen Raum« (Jehoschua Ahrens) und »Jüdische Wegbereiter des Dialogs im deutschsprachigen Raum« (Daniel Alter).
Überblickstabellen zur Chronologie der Herrscher zur Zeit des antiken Judentums, zu den wichtigsten Rabbinen, zum Kalender, zu Maßen, Gewichten und Geldwerten, zu den synoptischen Quellen, zum Kanon der Hebräischen Bibel bzw. des Alten Testaments sowie eine knappe Bibliographie der Textausgaben zu den Primärquellen, ein Glossar zu den hebräischen, aramäischen und griechischen Begriffen und exegetischem Fachvokabular und ein Sachregister beschließen das Werk.
All dies bietet der Leserschaft dieses Werkes nun nicht nur eine reiche und fundierte Kommentierung der neutestamentlichen Texte mit ausführlichen Einleitungen in die jeweiligen Bücher, sondern auch höchst instruktive Einblicke in zentrale Themen des antiken Judentums bzw. des Jüdisch-Christlichen Dialogs. Sowohl die Anmerkungen als auch die thematischen ausgerichteten Abschnitte sind in der Regel dem aktuellen wissenschaftlichen Diskurs verpflichtet und doch in einer klaren und unprätentiösen Sprache verfasst. Fachleute und Spezialisten werden hier viel Bekanntes finden und zudem auch manches kritisch lesen, so z.B. die Ausführungen zum jüdischen Tempelkult und Opfer, die von der Annahme auszugehen scheinen, dass der Kult in der Stiftshütte der religionsgeschichtlichen Realität entspricht. Das ist aber nicht das Entscheidende, vielmehr steht hier die Summe im Vordergrund, sowohl im Hinblick auf das Engagement der beteiligten jüdischen Gelehrten als auch im Hinblick auf das inhaltliche Panorama, das in diesem Werk geboten wird. Sehr hilfreich ist es in diesem Kontext, wenn in den Artikeln auch der Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen Diskursen hergestellt wird. So korrigiert, um nur ein Beispiel zu nennen, die Judaistin Tal Ilan, die lange Jahre als Professorin an der Freien Universität wirkte, die im Rahmen der feministischen Theologie immer wieder vertretene These, wonach die Jesusbewegung mit ihrer positiven Haltung gegenüber Frauen im Gegensatz zum zeitgenössischen Judentum stand, indem sie Beispiele benennt, nach denen auch Frauen Schülerinnen oder Unterstützerinnen bestimmter religiöser Bewegungen sein konnten. Wenn sich in der Jesusbewegung zahlreiche Frauen fanden, so sei das auch damit zu erklären, dass insbesondere »junge, revolutionäre Bewegungen deshalb oft Frauen anziehen, weil sie sich gegen das Establishment richten« (660). So erscheint das antike Judentum auch hier als der Rahmen, innerhalb dessen die Jesusbewegung zu verorten ist. Eine ganz besondere Rolle habe hier die Figur der Maria Magdalena gespielt, die Jesus als den Auferstandenen verkündigt hat; ihre Bedeutung wurde jedoch in der kirchlichen Tradition marginalisiert.
Das vorliegende Werk ist nicht nur eine Frucht des jüdisch-christlichen Gesprächs, sondern wird auch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für den künftigen Dialog bieten, in dem es die jüdische Welt der neutestamentlichen Texte und die jüdische Rezeption dieses Textes plastisch und bildreich vor Augen treten lässt und vielen Stereotypen mit einem ausgewogenen Sachwissen begegnet.

Beate Ego (Bochum)

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