Buch des Monats: Dezember 2020
Bedenbender, Andreas
Der gescheiterte Messias.
Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 349 S. ABU 5. Geb. EUR 22,00. ISBN 978-3-374-05796-2.
In dieser Rezension wird ebenfalls folgender Titel besprochen:
Bedenbender, Andreas: Frohe Botschaft am Abgrund. Das Markusevangelium und der Jüdische Krieg. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 551 S. SKI.NF 5. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03265-5.
Kaum ein Autor hat in den letzten Jahren die Markusforschung so konsequent von der Entstehungssituation des ersten Evangeliums her konzipiert wie A. Bedenbender. In seinen beiden eng aneinander anschließenden Studien von 2013 und 2019 interpretiert er die älteste kanonisch gewordene Jesus-Christus-Geschichte als eine Schrift, die – von den Gräuel eines verheerenden Krieges überschattet – noch ganz im Raum innerjüdischer Diskurse angesiedelt ist und in der sich das Ende Jerusalems als das Ende aller nationalen und religiösen Hoffnungen widerspiegelt. Wenn die Ereignisse des Jüdischen Krieges (66–70 n. Chr.) den zeitlichen und politischen Kontext für die Entstehung des Markusevangeliums darstellen – worüber in der Einleitungswissenschaft seit langem Konsens besteht –, dann kann das tatsächlich nicht ohne Folgen für dessen Auslegung bleiben. Ein Autor Markus, der den Krieg (Mk 13,7) lediglich als Pappkulisse für sein Bühnenstück über den galiläischen Wanderprediger Jesus benutzte, lässt sich kaum vorstellen. Das schwere Ringen jüdischer Gruppierungen jeglicher Coleur (einschließlich der kleinen christusgläubigen Gemeinde) um die Bewältigung einer Katastrophe, die sich als ihrer aller Katastrophe herausstellen musste, konnte auch die Konzeption jener Geschichte, die Markus erzählt, nicht unberührt lassen. Die aber ist mit einigen pauschalen Bemerkungen zu Ort und Zeit noch nicht erfasst.
Vordringlich geht es Bedenbender um das theologische Profil des ersten Evangeliums. Für den Autor Markus stellt der Jüdische Krieg eine traumatische Erfahrung dar, durch die auch seine »frohe Botschaft« einer schonungslosen Belastungsprobe unterzogen wird. Die Ereignisse selbst werden von ihm weder erklärt noch abgemildert; vielmehr werden sie frontal mit der Auferstehungsbotschaft konfrontiert – einschließlich der Möglichkeit, dass »das Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes« angesichts der aktuellen Wirklichkeitserfahrung auch scheitern könne (2013, 8). Markus erzählt das »Evangelium unter dem Vorzeichen seiner Fraglichkeit« (2013, 346). Die Innovationskraft des Textes besteht deshalb auch weniger in der Erfindung einer neuen literarischen Gattung als in der theologischen Deutung von Wirklichkeit, die Neuland betritt: Die verzweifelte Situation eines Unterganges, der auch die ererbten heilsgeschichtlichen Deutungsmuster mit in den Abgrund zu reißen droht, schlägt sich in einem »Evangelium« der Angst und des Schreckens nieder. Daran ist nichts zu reduzieren oder abzufedern. Noch am Ostermorgen vermögen die Frauen nur mit Furcht und Zittern auf die Auferstehungsbotschaft zu reagieren. Ihr (auf der Erzählebene unerledigter) Auftrag bleibt als Hoffnungsperspektive stehen, die es erst noch zu erproben und zu bewähren gilt. Immerhin kann aus Angst und Schrecken sowie Furcht und Zittern, wenn sie nicht verdrängt oder überspielt werden, Hoffnung und Stärke erwachsen. Vor allem aber gewinnt die Tatsache, »dass der als auferstanden Geglaubte zuvor gelitten hatte«, die Kraft einer Analogie zu all jenen, die unter den Schrecknissen des Krieges gelitten haben und noch immer leiden (2013, 345). Die Erzählung des Markus ist also mehr als nur ein Reservoire für zeitgeschichtliche Informationen oder dogmatisch relevante Topoi. Im Lichte der Wirklichkeitserfahrung des Krieges unterzieht sie den Glauben der Christusanhänger einem Stresstest, der alle Gewissheiten in Frage stellt, die Überforderung der Gemeinde aufdeckt und nichts an ihrer Verunsicherung beschönigt. So reiht sich das Markusevangelium in das Genre einer »Krisenliteratur« ein, die nach Erklärungen, Auswegen und neuen Perspektiven sucht.
Bedenbenders Auslegung holt Markus endgültig aus der Ecke des Sammlers und mehr oder weniger unbeholfenen Redaktors frühchristlicher Überlieferungen heraus und würdigt ihn als einen wachen, die Erfahrungen seiner Zeit reflektierenden Theologen, dessen Evangelium einen hochaktuellen und gerade in seinem klaren Zeitbezug letztlich zeitübergreifenden Text präsentiert. Hervorgegangen sind diese beiden Studien aus einer langjährigen Beschäftigung mit dem Markustext. Eine wichtige und für den Ansatz der Untersuchung programmatische Bezugsgröße stellt die rabbinische Literatur dar, die der Autor auf ihre Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Katastrophe des Jahres 70 hin befragt. Dies geschieht im direkten Zugriff auf die Quellen und nicht auf dem ansonsten weithin üblichen Umweg über Belegstellensammlungen wie die des Billerbeckschen Kommentars. Hier schöpft der Autor aus der eigenen Vertrautheit mit rabbinischen Überlieferungen, die er auf eine ganz neue Weise lebendig werden lässt. Ihrem Charakter nach sind beide Bücher weder thematische Studien noch kommentierende Durchgänge durch den Text. Sie bestehen vielmehr aus einer Reihe pointierter Textanalysen, die in ihrer Zusammenschau ein neues, in sich geschlossenes Bild der Theologie des Markus entwerfen. Der erste Band von 2013 nimmt (nach den einleitenden Präliminarien) unter der beziehungsreichen Überschrift »Topographie des Schreckens« ausgewählte Ortsangaben in den Blick. Die geographische Szenerie des Erzählers ist keine zufällige oder beliebige, sondern benennt und funktionalisiert Orte, die für die ursprüngliche Hörerschaft eine Fülle bedrückender Assoziationen freisetzt. Markus taucht seine Geschichte nicht etwa in das Licht des galiläischen Frühlings, sondern lässt sie an Schauplätzen dramatischer Konflikte spielen. Während der »wüste Ort«, in dem das Motiv der Verwüstung und Schändung des Tempels anklingt, noch auf der Ebene eingeführter Metaphorik verbleibt, verbinden sich mit Ortslagen wie Bethsaida am See Erinnerungen an konkrete Kampfhandlungen. Die Passion Jesu auf Golgatha (»Schädelstätte«) gestaltet Markus in Analogie zu der Passion Israels; das »Bekenntnis« des römischen Centurios unter dem Kreuz fungiert eher als eine Art »Nekrolog« und ist nicht frei von narrativer Ironie. Der See (bzw. das »Meer«) Genezareth wiederum erscheint als Bild für die Chaosmächte und deren Widerspiegelung in den chaotischen Ereignissen des Krieges: »Im Galiläa des Jahres 67 hatte nicht Israel Ägypten, Rom hatte Israel tot am Ufer des Meeres liegen sehen.« (2013, 170) Ein weiters Kapitel behandelt die ambivalente Position des Autors Markus »Zwischen Römern und Zeloten«. Dass er Rom (ganz im Gegensatz etwa zu Lukas) als eine durch und durch gottfeindliche Macht betrachtet – nicht weniger radikal, als das wenig später der Seher Johannes tun wird –, kann Bedenbender an zahlreichen Episoden überzeugend belegen. Als ambivalent erscheint hingegen die Haltung des Evangelisten gegenüber den Zeloten: Einerseits lehnt er ihre Theologie und ihren politischen Weg ab, andererseits solidarisiert er sich mit ihnen da, wo sie zu Opfern römischer Grausamkeit werden: »Das Mk-Ev hält seine Leserschaft dazu an, sich auch dort nicht von Israel abzuwenden, wo Israel sich von den Zeloten hatte in die Katastrophe führen lassen (2013, 348).« Das letzte Kapitel besteht aus Exkursen und Beigaben, die noch einmal verschiedene Einzelaspekte aufnehmen. Dazu gehören etwa die weitere Präzisierung der Datierungsfrage, die »ideologische Deutung« der Tempelzerstörung bei Juden und Römern, oder die Interpretation der Wehesprüche über Kapernaum, Bethsaida und Chorazin als poetische Verweise auf das römische Reich.
Der zweite Band von 2019 führt die einmal entwickelte These weiter aus und bewährt sie nun an Texten, die bislang noch unberücksichtigt geblieben waren. Überraschend und gegen den Strich der üblichen Auslegung liest Bedenbender die Episode vom »Scherflein der Witwe« (im Kontext von Mk 10,46–13,2): Hier wird nicht etwa das Lob der Opferbereitschaft gesungen, sondern eine latente Kritik am Tempel zum Ausdruck gebracht – formuliert im Horizont seiner Zerstörung, die weniger auf einem göttlichen Ratschluss als auf dem irregeleiteten Verhalten der Frommen beruht. Den Feigenbaum in Mk 11,13 versteht Bedenbender als Sinnbild jener Verwüstungen, die dem Volk von Seiten der Römer drohen. Hoch dramatisch wird es mit der Episode von Jesu Salbung in Bethanien: Der Wortlaut von Mk 14,3 erzwingt die Vorstellung, dass die Frau das Alabastergefäß gewaltsam zerschlägt und den Messias gleichsam mit Öl und Scherben salbt. Das aber ist nicht die Vorwegnahme eines pietätvollen Rituals, sondern die zeichenhafte Inszenierung eines Gerichtshandelns, in dem der »gescheiterte Messias Israels« mit seinem Volk solidarisch wird. Die Frauen in Sichtweite des Kreuzes und am Grab spielen über die Figur der Maria Magdalena noch einmal die Erinnerung an das Massaker von Tarichea/Magdala ein; ihr Schrecken und ihre Sprachlosigkeit kommen für den Erzähler nicht von ungefähr, was auch für die ersten Leserinnen und Leser gilt. Daran schließt sich noch einmal eine Gesamtschau auf dieses »vom Krieg verstörte Evangelium« an: »Das Mk-Ev hält die Gratwanderung zwischen Resignation und Realitätsflucht bis zum Ende durch, aber um den Preis, daß es in eine Aporie gerät.« (2019, 240) Gerade darin liegt jedoch auch sein theologisches Potential. »So gewiß der Messias im Mk-Ev gescheitert ist, so gewiß ist dieses Scheitern nicht das Ende. Es gibt die Perspektive eines Neuanfangs in Galiläa, und es gibt Geschichten, die sich der Vorstellung einer Auferstehung immerhin tastend annähern.« (2019, 252)
Vieles an diesen Auslegungen bricht mit vertrauten Interpretationsmustern. Doch auch die Methodik der vorliegenden Studien beschreitet neue und ungewohnte Wege. Bedenbender hat dafür den Begriff einer »materialistisch-allegorischen Deutung« gewählt. Das klingt indessen sehr viel eigenwilliger, als es tatsächlich ist. Hinter dem Attribut »materialistisch« verbirgt sich nichts anderes als die Wahrnehmung eines Textes im Kontext seiner ökonomischen, politischen, sozialen und ideologischen Entstehungsbedingungen – eine Dimension also, die für jede exegetische Arbeit schlicht unverzichtbar ist; hinter dem Attribut »allegorisch« wiederum steht jene intensive Debatte um den metaphorischen Charakter von Sprache überhaupt, die in den letzten Jahrzehnten die Exegese insgesamt in ihren Bann geschlagen hat. Das Proprium dieser programmatischen Verknüpfung besteht in dem Anliegen, vor allem solche allegorischen Bedeutungen zu ermitteln, »die sich dem Text bei strikt historischer Betrachtung zutrauen lassen« (2013, 18). Neu ist an Bedenbenders Ansatz, dass er als Prätext des Markusevangeliums nicht nur die Geschichte der christusgläubigen Gemeinde, sondern auch die des Volks Israel im Ganzen sieht. Die Kreuzigung Jesu erscheint als implizite Geschichte des Jüdischen Krieges. Die gemeinsame Katastrophe wird zur maßgeblichen Bezugsgröße: »Nach dem Jüdischen Krieg ist [auch] Jesus nicht mehr der gleiche wie zuvor.« (2013, 22)
Wenn Luthers bekanntes Diktum von der Anfechtung, die erst zum Theologen mache, eines biblischen Beispiels bedürfte, dann böte sich dieser Markus dafür an! Die Anfechtung oder Krise, in der er schreibt, betrifft die Geschichte von Juden und frühen Christen gleichermaßen. Weniger als die vielbeschworenen Abgrenzungsprozesse sind es gemeinsame Fragen, die an der Wiege der Textsorte »Evangelium« stehen. In den Katastrophen des 20. Jh.s ist dafür eine neue Sensibilität entstanden, die nun auch mehr und mehr im exegetischen Alltagsgeschäft ankommt. Bedenbenders Markusexegese ruft in Erinnerung, dass jede Theologie stets auch die Möglichkeit ihres Scheiterns in sich trägt – wofür schon das älteste Evangelium ein eindrückliches Memento formuliert.
Trotz allem bleibt die »frohe Botschaft«, auch wenn sie am Abgrund steht und mit gescheiterten Hoffnungen konfrontiert ist, am Ende noch immer eine »frohe Botschaft«. Dieser Aspekt, der in den beiden vorliegenden Bänden die Fluchtlinie aller Ausführungen darstellt, verdient es, noch einmal deutlicher herausgearbeitet zu werden. Denn genau daran machen sich dann schon wenig später die neuen Entwürfe eines Matthäus oder Lukas fest. Mit den beiden Bänden von 2013 und 2019 wird es deshalb wohl auch nicht sein Bewenden haben. Ein letzter Band, der das Ganze zur Trilogie erweitert, wäre hoch willkommen!
Christfried Böttrich (Greifswald)