Buch des Monats: November 2014
Hrsg. v. S. Vollenweider. Eingel., übers. u. m. interpretierenden Essays vers. v. S. Vollenweider, M. Baumbach, E. Ebel, M. Forschner, Th. Schmeller
Epiktet: Was ist wahre Freiheit? Diatribe IV 1
Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XI, 178 S. = SAPERE, 22. Lw. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-152366-3
Freiheit hat Konjunktur in der Öffentlichkeit, nicht nur am 9. Oktober 2014 in Leipzig, da diese Zeilen geschrieben werden, oder im Monat November im vereinten Deutschland, wenn sie auf der Website der Theologischen Literaturzeitung erscheinen. Auch die EKD schreibt sich gern „Freiheit“ auf ihre Fahnen und in ihre Broschüren, wie zuletzt in dem Heft „Rechtfertigung und Freiheit“, das vom Rat der EKD als „Grundlagentext“ zu „500 Jahre Reformation 2017“ herausgegeben und kurz darauf von katholischer Seite als eine Art „evangelisches Dominus Jesus“ deklariert worden ist.
Angesichts solcher bisweilen hitzigen, aber doch eben auch eher kurzlebigen Scharmützel um die Freiheit sei hier auf ein deutlich nachhaltigeres literarisches Produkt zum Thema hingewiesen. Der römische Stoiker Epiktet (50/60 – 120/140 n.Chr.) hatte als ehemaliger Sklave seine eigenen Erfahrungen mit der Freiheit. Auch nach seiner „Freilassung“ (die in der Antike noch lange nicht die Freiheit nach sich zog, die wir heute meinen) blieb er an die sozialen Beziehungen und politischen Abhängigkeiten des kaiserzeitlichen Rom gebunden, was ihm nach einigen Versuchen mehr oder weniger freier philosophischer Lehrtätigkeit in der Hauptstadt des Imperiums schließlich unter Domitian die Verbannung einbrachte.
Ernst genommen wurde er dennoch, jedenfalls von den wahrhaft freien Geistern seiner Zeit, zu denen man mit gutem Recht auch den Kaiser Marc Aurel rechnen darf, der ihn schon bald las. Familien der gesellschaftlichen Elite schickten ihre aufstrebenden Söhne alsbald in die Schule des ehemaligen Sklaven, die er sich in seinem kleinasiatischen Exil aufgebaut hatte. Dass wir von Epiktets Lehre heute überhaupt etwas wissen, verdanken wir einem dieser Schüler, Arrian (85/90 – nach 170). Er erstellte aus den Lehrvorträgen Epiktets, der offenbar selber nichts Geschriebenes hinterließ (darin mit Sokrates und Jesus auf einer Höhe), ein „Handbüchlein“ sowie eine große Anzahl von „Diatriben“. In diesen je für sich relativ knappen Abhandlungen werden in abwechslungsreicher Form, oft in Rede und Gegenrede, vorwiegend konkrete ethische Fragestellungen behandelt, etwa wie man mit Armut philosophisch umgehen kann, wie man Krankheiten am besten bewältigt oder auch wie man mit der Einsamkeit klarkommt. Auch psychologische („Wie man gegen seine Phantasien ankämpfen soll“) oder theologische Themen („Was bedeutet Verwandtschaft mit Gott?“, „Gott sieht alles“) werden auf diese Weise traktiert, und nicht zuletzt politische: „Wie man sich gegenüber Tyrannen verhalten soll“ und eben: „Was ist wahre Freiheit?“.
Für Epiktet gilt: „Frei ist, wer lebt, wie er will. … Wer nun will in Verfehlung leben? Keiner. … Also lebt kein schlechter Mensch so, wie er will. … Also gibt es (unter den schlechten) auch keinen freien Menschen.“ (Diss. IV 1–5). Kann es dann überhaupt Freie geben, fragt Epiktet weiter, und antwortet geradezu biblisch: „Suche und du wirst finden. Denn du hast von der Natur die Anlagen dazu, die Wahrheit zu finden.“ (51) Streben nach Freiheit hat mit der Suche nach Wahrheit zu tun wie das rechte Wollen mit dem rechten Wissen. Entscheidend für die Freiheit sind nicht die Rahmenbedingungen, sondern „das Wissen, wie man lebt“ (63). „Wer also das Wissen vom Leben im Ganzen besitzt, was kommt Anderes in Frage, als dass dieser der Herr sein muss?“ Und wer der Herr aller ist, der ist niemandes Sklave und somit wahrhaft frei (118).
Als philosophischen Reisebegleiter, als vade mecum für den durchaus gefährlichen Lebensweg in Freiheit – immerhin hat er künftige Führungskräfte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vor sich! – empfiehlt Epiktet seinen Schülern keinen geringeren als Gott. „’Kann ich nicht einen Mitreisenden finden, der zuverlässig, treu, stark ist und mir nicht nachstellt?’ So denkt er nach und überlegt, dass er, wenn er sich an Gott anschließt, sicher durchkommt.“ Wie meinst du das, fragt der fiktive Gesprächspartner, und bekommt zur Antwort: „So, dass er das, was jener will, auch selbst will, und das, was jener nicht will, auch selbst nicht will. Wie geht denn das? – Wie denn anders als so, dass er auf die Willenskundgebungen und die Verwaltung Gottes schaut? Was hat er mir als meinen Zuständigkeitsbereich gegeben, was hat er sich selbst behalten? Die Willensentscheidungen hat er mir gegeben, hat sie mir so zugeordnet, dass sie weder gestört noch gehindert werden können.“ (97–100)
Darüber wie über manches andere bei Epiktet, etwa über die Natur des Menschen, wird man trefflich streiten können. „Was ist nun seine Natur?“, fragt er. „Zu beißen, auszuschlagen, ins Gefängnis zu werfen, zu köpfen? Nein, sondern Gutes zu tun, zu helfen, zu beten.“ (122) Von Paulus her würde man da wohl manches etwas anders sehen, hinsichtlich der Natur und der Willensentscheidungen des Menschen ebenso wie mit Blick auf die Verwaltung Gottes. Übrigens wurde dieser Streit um Nähe oder Distanz zwischen Epiktet und dem Christentum auch seit der Antike intensiv geführt. Warum sollte der römische Philosoph der Freiheit dann nicht auch bei aktuellen Diskursen um die Freiheit ein Wörtchen mitzureden haben?
Das kürzlich erschienene Buch aus der Reihe SAPERE (Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam REligionemque pertinantia) bietet dafür den bequemsten Zugang. Auf eine Einführung zu Leben und Werk Epiktets (Thomas Schmeller) folgt der griechische Text mit neuer deutscher Übersetzung und Anmerkungen (Manuel Baumbach/Thomas Schmeller). Daran schließen sich erläuternde und vertiefende Essays zum sozialgeschichtlichen Hintergrund Epiktets und seiner Diatribe über die Freiheit (Eva Ebel), zur Freiheit in der klassischen stoischen Lehre (Maximilian Forschner) und zu theologischen Aspekten der Freiheit bei Epiktet (Samuel Vollenweider). Wenn Freiheit nicht Floskel bleiben soll, dann empfiehlt sich vor allen öffentlichen Kundgebungen zum Thema ein Blick in dieses Buch.
Karl-Wilhelm Niebuhr (Leipzig)