Buch des Monats: Juli/August 2023

Berlejung, Angelika

Divine Secrets and Human Imaginations. Studies on the History of Religion and Anthropology of the Ancient Near East and the Old Testament

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XVI, 678 S. = Orientalische Religionen in der Antike, 42. Lw. EUR 194,00. ISBN 9783161600340.

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In ihrer viel beachteten Heidelberger Dissertation Die Theologie der Bilder (Orbis Biblicus Orientalis 162, 1998) hat Angelika Berlejung vor 25 Jahren der alttestamentlichen Wissenschaft umfassende Einblicke in die kulturelle und religiöse Bedeutung von Kultbildern im antiken Mesopotamien eröffnet. Im Licht dieser wichtigen Arbeit konnten die Polemiken gegen kultisch verehrte Bilder im Tanakh/Alten Testament viel genauer verstanden und eingeordnet werden. Nur wenn man über eine differenzierte Kenntnis der Praktiken zur Herstellung und Weihung der Statuen von Gottheiten in Babylonien und Assyrien verfügt und um die damit verbundenen zentralen kulturellen Aussagen weiß, kann man verstehen, wogegen sich biblische Texte wie Jes 44,9–20 oder Ex 32 (goldenes Kalb) eigentlich wenden. Deren Kritik an Kultbildern und ihrer Verehrung zielte auf das Herzstück altorientalischer Kulturen, denn diese waren auf die Präsenz der Gottheiten in ihren Hauptmedien, den Götterbildern, ausgerichtet. Mit den Bildern in den zentralen Heiligtümern interagierte die Gesellschaft wie mit den Gottheiten selbst und versicherten sich so des Erhalts der kosmischen und sozialen Ordnung. Die Ablehnung dieser Medien in biblischen Texten und weiterer frühjüdischer Literatur verdankt sich offenbar der hohen Faszination der Kultbilder Mesopotamiens für exilierte Judäer in Babylonien und für die Bewohner der persischen Provinz Jehud. Der einzige Schöpfergott JHWH, der die Welt und die Völker geschaffen hat, kann – so die alttestamentlichen Abgrenzungsversuche – durch kein Element der Welt repräsentiert werden. Die Kritik am »toten« Material im Gegensatz zum lebendigen Gott ist dabei ein geläufiger Topos (vgl. Ps 115 und das Bilderverbot Ex 20,4 // Dtn 5,8 mit Dtn 4,15–19).
Der umfangreiche Band Divine Secrets and Human Imaginations umfasst Studien, die Angelika Berlejung seit ihrer Dissertation zum Thema der Kultbilder, den mit ihnen zusammenhängenden altorientalischen Religionssystemen sowie zu weiteren kulturgeschichtlichen Vorstellungen und Praktiken im Altem Orient und im antiken Israel verfasst hat. Sie ist seit 2004 Lehrstuhlinhaberin in Leipzig (mit dem Schwerpunkt Geschichte und Religionsgeschichte Israels und seiner Umwelt). Seit 2009 lehrt sie auch an der Universität Stellenbosch/Südafrika. Sie arbeitet in vielen internationalen Forschungskooperationen v.a. im Bereich der Palästinaarchäologie und der Kulturgeschichte des Alten Orients. Von daher ist der umfangreiche Band mit ihren gesammelten Aufsätzen in englischer Sprache verfasst, was dank der präzisen Übersetzung durch Dr. Stephen Germany in keiner Weise die Lesbarkeit beeinflusst. Im Gegenteil zeigt sich, gerade bei den bisher schon auf Deutsch veröffentlichten Beiträgen, dass die englische Sprachversion die in einer klaren Fachdiktion geschriebenen Texte vielleicht im manchem noch zugänglicher präsentiert, als dies im Deutschen möglich ist.
Der Band ist zweiteilig angelegt: Der erste, mit Divine Secrets überschriebene Teil (3–289) bietet acht Untersuchungen zu den Göttern Mesopotamiens anhand von deren textlichen und v. a. visuellen Repräsentationsformen. Der zweite Teil Human Imaginations (291–644) enthält zwölf weitere Texte zu Themen der altorientalischen und alttestamentlichen Religions- und Kulturgeschichte (z. B. zu Vorstellungen von der Totenwelt, zur Idee der Sünde, zum Umgang mit Katastrophen, zu Medien des kulturellen Gedächtnisses oder zur Sexualität). Bei diesen Beiträgen ist der innere Zusammenhang weniger deutlich als beim ersten Teil, der zusammen-genommen fast eine zweite Monographie zum Bilderthema nach der Dissertation darstellt. Die ganze Sammlung vermittelt einen ausgezeichneten Einblick in die Arbeitsweise der Forschungen von Angelika Berlejung. Charakteristisch für alle Beiträge des Buches ist nämlich der genuine »Blick aus zwei Fachperspektiven«, der »Assyriologie« (und vorderasiatischen Ikonographie) einerseits und der »alttestamentlichen Exegese« (und Palästinaarchäologie) andererseits. Wie kaum eine andere Forscherin ihrer Generation arbeitet Berlejung dabei immer auch mit kulturtheoretischen Leitkonzepten, um ihre historischen Untersuchungen möglichst neutral und deskriptiv anzulegen. So bekommen weder die Kulturen und Religionen Mesopotamiens noch die des Alten Israel und seiner Nachfolger in persisch-hellenistischer Zeit das Hauptgewicht. Vielmehr halten sich die Anteile der Beschäftigung mit ihnen in den Studien zumeist die Waage, mit einem gewissen Übergewicht des Alten Orients in Teil I (zu den Bildern). In jedem Fall entsteht ein wichtiger Effekt für die Lesenden, weil die biblischen Texte viel stärker als in anderen Arbeiten mit einem bewusst herausgearbeiteten kulturellen Abstand betrachtet und interpretiert werden. Sie erscheinen so als selbstverständlicher Teil der größeren Welt des Alten Orients und auf diese Weise werden – im Licht von präzise reflektierten Vergleichen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede benannt. Vor allem die Gefahr von Überinterpretationen seitens einer theologisch orientierten Bibelwissenschaft ist der Verfasserin sehr bewusst. Hier pflegt sie eine wohltuende Zurückhaltung.
Ich möchte die Vorzüge dieser Arbeitsweise noch etwas genauer am ersten Teil des Bandes verdeutlichen: Wie die Beiträge zum Stellenwert der Kultbilder in den Gesellschaften des Vorderen Orients, zu den Umgangsweisen mit ihnen sowie den Verfahren der Sicherung von Kult-Kontinuität nach Zerstörungen von Heiligtümern zeigen, gab es in Mesopotamien nichts wichtigeres als die Kommunikation mit den Gottheiten, die durch diese zentralen Medien gewährleistet wurde. Zugleich zeigen der erste wie auch vierte Beitrag, dass neben der physischen Präsenz der Götter in den Bildern immer auch ein Wissen um ihre Entzogenheit und Verborgenheit existierte. Kein einzelnes Artefakt, auch keine noch so umfangreiche textliche Beschreibung einer Gottheit umfasste deren Größe vollständig: »Neither a single cultic image nor the sum of [...] several cultic images + symbols of a deity encompassed its divine entirety. The god/goddess always remained invisible, intangible, mobile, non-physical and fluid.« (37) Dasselbe zeigt sich auch in der unaufhebbaren Vielfalt »babylonischer Theologien«, deren Einheitlichkeit stärker im Willen des modernen Betrachters existiert, der systematisieren möchte, als in der Innensicht der Kultur selbst (Beitrag 6). Besonders überzeugend ist in dieser Hinsicht der auch methodisch grundsätzliche Aufsatz The Reduction of Complexity, der dem theologischen Profil des Haupt- und Staatsgottes Assur im 1. Jt. v.Chr. gewidmet ist (247–289). Berlejung zeigt hier auf, wie die dem imperialen Anspruch Sanheribs geschuldete theologische Reform, die textliche wie v.a. visuelle Zeugnisse umfasste, die nicht beliebige Pluriformität des Gottes noch vertiefte. Die methodische Folgerung daraus lautet: »Images and texts are sources for ancient constructions of reality and part of the discourses (in the Foucaultian sense of the term) that constituted patterns of thought and perception.« (267) Texte und Bilder folgten demnach Intentionen, die immer situativ und kontextuell bedingt sind. Zugleich arbeiteten sie mit lange vorgegebenen kulturellen Traditionen. Somit bleibt als wesentliches Resümee zum Verhältnis zwischen Divine Secrets und Human Imaginations, wie es sich in der Wechselseitigkeit »innerer« und »äußerer« Bilder manifestiert: »There is a clear interrelation: Described, depicted or rendered divine images are shaped by human imagination (society, client, artist or author), however the existing divine images, verbally or visually produced in various contexts, also shape human and individual imagination.« (268) Eine interessante Beobachtung aus dem Aufsatz zu Assur ist die Einsicht in eine Göttergestalt, die u.a. mit den gegensätzlichen Emotionen des Zorns (über menschliche Vergehen) und der Gnade (angesichts von Wohlverhalten) gezeichnet wird. Sanherib hat diese, bereits von Marduk her bekannten Polarität der göttlichen Emotionen (vgl. Ludlul bēl nēmeqi Tf I,1–10) ins Politische gewendet (259f., 269) – eine der vielen Einzelheiten des inhaltsreichen Bandes, die den vertieften Vergleich mit alttestamentlichen Aussagen herausfordern. Alle Beiträge wurden überarbeitet und erweitert, wobei durchgehend neueste Forschungsliteratur ergänzt wurde (mit Blick auf die Fortschritte der Assyriologie ist das besonders verdienstvoll). Beitrag 5 zur Wiederherstellung, Zurückführung und »Rückkehr« von Göttern/Götterbildern im 1. Jt. v.Chr. in Mesopotamien war bisher unpubliziert. Im Ganzen ein höchst lohnendes Buch, das die Unverzichtbarkeit einer präzisen religionsgeschichtlichen Komparatistik für die alttestamentliche Wissenschaft eindrucksvoll demonstriert.

Friedhelm Hartenstein (München)

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