Buch des Monats: April 2020

Neil MacGregor

Leben mit den Göttern

Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn und Annabel Zettel, München: C. H. Beck 2018. 542 Seiten m. 245 überw. farb. Abb. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-406-72541-8

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Manchmal ist für das Verständnis von Büchern entscheidend, die Geschichte im Hintergrund zu kennen. Allzumal dann, wenn in der abschließenden Danksagung diese Geschichte nur angedeutet ist. Der britische Kunsthistoriker Neil MacGregor leitete in den Jahren 2003 bis 2015 das altehrwürdige Britische Museum in London. Während seiner Direktionszeit veränderte sich das Museum noch stärker als zuvor beispielsweise Ende der neunziger Jahre durch den Umbau des Innenhofes nach den Plänen des Architekten Norman Foster: Man konzentrierte sich unter MacGregor noch mehr auf spektakuläre Sonderausstellungen zu großen Themen, um neues Publikum anzuziehen und leerte dafür sogar den berühmten Lesesaal der British Library in der Mitte des Innenhofs. Kritiker weisen darauf hin, dass inzwischen die Spuren der Konzentration auf die spektakulären Inszenierungen der Sonderausstellungen, auf Museumsshopping und den Cafeteria-Betrieb unübersehbare Spuren in den Dauerausstellungen hinterlassen haben: abgestoßene Teppiche aus den siebziger Jahren, Regenflecke auf den Böden aufgrund von undichten Glasdächern und sich ablösende, mit Schreibmaschine getippte Erläuterungen an den Objekten.
MacGregor war offenkundig daran interessiert, weit breitere Kreise als nur das klassische Publikum zu erreichen. Und neben den Sonderausstellungen und anderen spektakulären Events im Museum wurde er durch Sendungen in Kooperation mit der BBC weit bekannt, zunächst wurde im Jahr 2000 die Serie »Seeing Salvation« über Jesusbilder in der westlichen Kunstgeschichte ausgestrahlt. 2010 präsentierte er die Serie A History of the World in 100 Objects«, die auch in deutscher Sprache als Buch mit dem Titel »Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ erschien (erstmals: München 2011; inzwischen in sechster Auflage 2015). Der ursprünglich auf mittelalterliche Kunstgeschichte spezialisierte MacGregor hat auch Germanistik studiert und empfahl sich nicht zuletzt durch die Ausstellung »Germany – Memories of a Nation« im British Museum 2014 für die Position eines der drei Gründungsintendanten im Humboldt-Forum in Berlin, die er von 2015 bis 2018 bekleidete. Ohne dass dies jeweils ganz präzise ausgeführt wird, wird schnell deutlich, dass Texte der Bücher, die auf die genannten großen Sonderausstellungen zurückgehen, sich ebenso wie die Auswahl der Objekte den (namentlich nicht genannten) Kuratoren des British Museum verdanken. Dazu haben offenkundig Profis aus dem journalistischen Bereich dafür gesorgt, dass die Bücher ebenso gut wie fesselnd geschrieben sind und sich leicht lesen lassen. Das alles gilt auch für die Sonderausstellung »Living with the Gods« aus dem Jahre 2018, die auf eine dreißigteilige BBC-Hörfunkserie zurückging und deren Begleitbuch ebenfalls ins Deutsche übersetzt wurde und von dem renommierten Münchener Verlag in einem edel ausgestatteten und mit Goldumschlag versehenen Band unter dem Titel »Leben mit den Göttern« veröffentlicht wurde. Ein (begeisterter) Rezensent spricht von einem »1,6-Kilo-Opus« (im Quartformat), ein anderer vom neuen Blockbuster MacGregors.
Es handelt sich bei dem Begleitbuch der Ausstellung nicht um einen Katalog im klassischen Sinne, Inventarnummern und Maße finden sich nicht, obwohl immer wieder einmal auch Objekte aus dem Britischen Museum beschrieben werden. Stellenweise merkt man sehr deutlich, dass in den Radio-Sendungen Interviewpartner Rede und Antwort standen; ihre Gesprächsbeiträge sind nun in indirekter Rede oder Zusammenfassung referiert, oft aber auch in wörtlicher Rede. Wo und wann man diese Zitate in der zugrundeliegenden BBC-Serie findet, wird nicht dokumentiert; eine knappe Biographie verweist lediglich auf Einführungswerke und wurde vom Verlag behutsam an die deutsche Situation angepasst. Man begreift bei der Lektüre schnell, dass MacGregor auch in diesem Buch wieder sein Erfolgsrezept verwendet, den Zugang zu einem Phänomen über eine Anzahl aussagekräftiger Objekte zu vermitteln – beispielsweise, wenn er die Geschichte der Welt anhand von hundert Objekten zu erzählen versucht. Dabei geht MacGregor davon aus, dass »Glaubensüberzeugungen« zum Menschen einfach dazugehören, sein Leben als Individuum und ganze Gruppen bestimmen können und als Glaube, Religion oder Ideologie auftreten können. Als Begründung dafür, warum dieses Thema jetzt als Gegenstand von Radiodokumentation, Sonderausstellung und Buch so drängend ist, verweist der Autor (oder soll man präziser formulieren: der Herausgeber?) darauf, dass Fragen des Glaubens in den letzten Jahrzehnten immer mehr in das Zentrum der globalen politischen Bühne gerückt sein, was eine unerwartete Rückkehr zu einem jahrhundertealten Muster sei. Dabei denkt MacGregor keineswegs allein an den Nahen Osten: Leicht überrascht liest man, dass das berühmte »In God we trust« amerikanischer Dollarnoten erstmals 1956 aufgedruckt wurde, um sich von der als atheistisch empfunden Sowjetunion abzusetzen.
Offenkundig geht es MacGregor, der sich selbst zum Christentum bekannt, darum, gemeinsame Züge in allen Glaubensweisen zu identifizieren, dafür repräsentative Objekte wie Rituale vorzustellen und repräsentative Vertreter solchen Glaubens zu präsentieren. Glaubensweisen enthalten seiner Ansicht nach immer Geschichten, beispielsweise über den Anfang der Welt; sie ordnen die Zeit und lassen sich über Objekte, Orte und Handlungen oft besser beschreiben. Und so beginnt das Buch nach den Präliminarien – um ein charakteristisches Beispiel anzuführen – mit einem rund 40 000 Jahre alten Objekt, dem »Löwenmenschen von Ulm«, der im Museum dieser schwäbischen Stadt gezeigt wird. Die Statuette aus Mammutelfenbein wird »als die älteste Darstellung von etwas jenseits menschlicher Erfahrung« vorgestellt. Dann wird einem aber klassische Religionsphänomenologie geboten: Feuer bei den Römern, bei den Persern, Feuer bei ursprünglich aus Persien stammenden Indern, Wasser im Taufbecken einer britischen christlichen Kathedrale, Wasser in hinduistischen Erzählungen aus Indien, Licht und Ernte.
Insgesamt sechs Hauptabschnitte umfasst das Buch mit seinen fünfhundertvierzig Seiten und vielen hunderten farbiger Abbildungen: »Unser Platz im Gefüge« beschäftigt sich mit Narrativen, Ritualen und Objekten, die unterschiedliche Vorstellungen von natürlicher Welt und dem Platz der Glaubensgemeinschaften in dieser Welt artikulieren; »gemeinsam Glauben« zielt auf die Einbindung individuellen Lebens in überindividuelle Zusammenhänge über Generationen; »Theater des Glaubens« handelt von der öffentlichen Inszenierung »spirituellen Lebens«; »die Macht der Bilder« beschreibt Glaubensgemeinschaften als Bildgemeinschaften; »ein Gott, viele Götter« problematisiert den simplen Dual von Mono- und Polytheismus und fragt nach den politischen Folgen der jeweiligen Orientierungen und »Irdische Mächte, himmlische Mächte« fragt abschließend nach den eschatologischen Vorstellungen, dem »Traum von der himmlischen Stadt«. Merkwürdigerweise fehlt die Sexualität. Und innerliche Haltungen wie beispielsweise Nächstenliebe als Wurzel karitativer Tätigkeit kommen auch nicht wirklich in den Blick. Der Titel des Buchs ist ernst gemeint: Es geht um »Leben« vor allem in seinen praktischen und alltäglichen Vollzügen.
Leider fehlt dem Buch ein Abschnitt zu den methodischen Problemen solcher Komparatistik quer zu Orten, Zeiten und Glaubensweisen, wie übrigens man auch gern etwas zu den Debatten um Recht und Grenze einer Religionsphänomenologie gelesen hätte. Natürlich steht das Buch nicht auf dem Stand der Religionsphänomenologie des letzten Jahrhunderts: MacGregor interessieren weniger die Phänomene wie Feuer, Wasser oder Licht als vielmehr die mit ihnen verbundenen Geschichten als Zeichen von Welterfahrung der Menschen und Mensch-Natur-Kosmos-Relationen. Offenkundig ging es bei Radio-Dokumentation, Ausstellung und Buch aber nicht um sorgfältige Differenzierung oder gar um die Differenzen zwischen Glaubensweisen, Religionen und Ideologien, sondern um verbindende »Sehnsucht nach Spiritualität« in ihren jeweils verwandten Erscheinungsformen. Gegen das Säkularisierungsparadigma wird, wie inzwischen schon öfter zu lesen, die Gleichung homo sapiens = homo religiosus gestellt. Zum Beleg dieser These sollen die Objekte, Rituale und Narrative dienen, die das Buch sammelt. Insbesondere die außergewöhnliche Fülle der vorzüglich fotografierten und bestens ausgewählten Objekte und Rituale beeindruckt. Viele Menschen haben dabei mitgeholfen, dass eine regelrecht fesselnd geschriebene Darstellung zustande kam. Das alles kann man bei gutem Willen als einen beeindruckenden Versuch werten, in Zeiten zunehmender, auch religiös motivierter oder angeheizter politischer Konflikte die friedensstiftenden Gemeinsamkeiten von Glaubensweisen zu demonstrieren, man kann aber natürlich auch von gescheiterter Kommunikation wissenschaftlicher Differenzierungen in die breite Öffentlichkeit sprechen.

Christoph Markschies (Berlin)

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